Der zehnte Richter
vergangenen Stunden von sich abzuwaschen. Mit ausgestreckten Armen lehnte er sich gegen die Wand der Duschkabine und ließ das Wasser über seinen Körper fließen. Volle drei Minuten stand er völlig bewegungs- los, bevor ihn langsam und ohne Vorwarnung ein Weinkrampf überfiel. »Es tut mir leid, Ober«, schluchzte er, »es tut mir ja so leid.« Unter dem rauschenden Wasser stellte er sich plötzlich vor, wie er Obers Sarg tragen würde, und er erinnerte sich, wie er den seines Bruders getragen hatte. Er stellte sich das Gesicht von Obers Mutter vor, als sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr, und er erinnerte sich an die Trauer seiner eigenen Mutter. Er stellte sich die Zukunft ohne Ober vor und wußte, wie sehr er seinen Freund vermissen würde.
ACHTZEHNTES KAPITEL
Am Sonntagmorgen zog Ben um viertel nach neun seinen. Mantel an und nahm seine Aktentasche. Noch immer tief in Gedanken an Obers Tod versunken, versuchte er, nicht an die nervenaufreibende Stille zu denken, die sich im Haus ausgebreitet hatte. Er drehte sich um und trat aus der Haustür. Eine dünne Schicht Neuschnee bedeckte den Boden. Auf dem Weg zur Straße trat er vorsichtig in die Spuren, die Eric und Nathan hinterlassen hatten. Während er zur U-Bahn ging, blickte er wiederholt über seine Schulter. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage war ihm die Vorsicht in Fleisch und Blut übergegangen. Als er um eine Ecke bog, sah er einen Mann in einem dunkelblauen Wintermantel und einem braunen Filzhut auf sich zukommen. Es beunruhigte ihn, daß die Hutkrempe das Gesicht des Mannes verbarg. Auf der Straße schob sich ein grauer Wagen neben ihn und hielt. Ben erkannte sofort, daß es Erics Auto war.
»Wie geht's?« Eric kurbelte sein Fenster herunter.
»Ganz gut«, antwortete Ben tonlos. Er trat an den Straßenrand und beugte sich zum Fahrerfenster hinunter. »Ich hab' vielleicht fünf Minuten geschlafen.«
»Ich auch«, sagte Eric. »Ich muß einfach ständig an ihn denken. Allein die Vorstellung, wie er da gehangen hat ...«
»Bitte hör auf.« Bens Hände schlössen sich um das Metall des Türrahmens. »Hast du es Lisa schon erzählt?«
»Ich hab' sie gestern nacht noch angerufen. Bevor ich meinen ersten Satz beendet hatte, hat sie schon losgeheult. Ich hab' sie noch nie so erlebt.«
Eric bemerkte die Aktentasche in Bens Hand. »Wo gehst du hin?«
»Zur Staatsanwaltschaft.«
»Das war's dann also?«
»Hoffentlich«, sagte Ben. »Morgen um diese Zeit sollte ich die ganze Sache hinter mir haben.«
»Ich weiß, daß ich das gestern nicht gesagt habe, aber ich glaube, du tust das Richtige.«
»Danke«, sagte Ben, während der Fremde in dem dunkelblauen Mantel hinter ihm vorbeiging. Ben drehte sich um und sah ihm hinterher. »Sieht der Typ deiner Meinung nach verdächtig aus?«
»Eigentlich nicht. Warum?«
»Mir ist er sonderbar vorgekommen.«
»Ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen machen«, sagte Eric. »Bestimmt ist er harmlos.«
»Ja.« Ben richtete sich auf.
»Soll ich dich zur Metro bringen?« fragte Eric.
»Mir wäre es lieber, wenn du mich in die Stadt fahren könntest.«
»Keine Zeit. Ich muß kurz einen Artikel überarbeiten, und dann in die Redaktion. Weiter als bis zur U-Bahn geht's beim besten Willen nicht.«
»Schon in Ordnung.« Ben trat zurück auf den Gehweg. »Ich glaube, die zwei Straßen schaffe ich schon.« »Wie du willst.« Eric kurbelte sein Fenster wieder hoch. »Dann bis heute Abend.«
»Hoffentlich«, sagte Ben. »Wenn du bis zum Abendessen nichts von mir gehört hast, bedeutet das, daß ich noch um meine Chancen als Kronzeuge feilsche.«
Der Wagen fuhr an, und Ben ging weiter. Als er die Geschäftsstraße des Viertels erreichte, ließ er seinen Blick unruhig umherschweifen. Er sah einen alten Mann, der seinen Gemüsekarren über den schneebedeckten Weg zog. Eine Frau, die trotz des Wetters neben ihrem schwarzen Labrador einher] oggte. Einen Supermarktangestellten beim Schneeschaufeln. Eine übergewichtige Frau, die Mühe hatte, nicht auszurutschen. Noch immer nervös, erreichte Ben seine Lieblingsbäckerei. Ich muß mich wirklich beruhigen, dachte er, während er eintrat. Es verfolgt mich doch niemand. Ben aß einen Bagel und eine Banane, wischte sich den Mund ab, schloß seinen Mantel und trat wieder in die Kälte hinaus. Sofort fiel ihm auf, daß zwischen ihm und dem U-Bahnhof der Mann in dem dunkelblauen Mantel und dem braunen Filzhut stand.
Langsam ging Ben weiter und versuchte, den sich nähernden
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