Der zehnte Richter
Summton die Richter ins Sitzungszimmer, wo sie sich auf das Betreten des Gerichtssaals vorbereiteten. Hinter dem burgunderroten Samtvorhang reichten sich alle Richter zeremoniell die Hände. Dies war ein Brauch, den der Vorsitzende Richter Füller um die Jahrhundertwende eingeführt hatte, um zu zeigen, daß »die Übereinstimmung in den Zielen, wenn auch nicht in den Urteilen, des Gerichtshofs Grundsatz« sei. Um Punkt zehn Uhr ließ der Gerichtsdiener seinen Hammer ertönen, worauf sich alle Anwesenden erhoben.
»Der ehrenwerte Vorsitzende und die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten!« verkündete er. Innerhalb weniger Sekunden schritten die neun Richter durch separate Öffnungen im Vorhang und begaben sich auf ihre Plätze.
So oft sie dieses Schauspiel auch beobachtete, Lisa war immer beeindruckt vom gleichzeitigen Erscheinen aller neun Richter. »Toll«, flüsterte sie Ben zu. »Als sähe man die Ankunft des All-Star-Teams.«
»Schhhh!« machte Ben, der gebannt auf das Podium in der Mitte starrte.
Die neun Sessel der Richter standen frontal vor allen Anwesenden. Mit identischem braunem Leder bezogen, waren sie der Statur jedes einzelnen Richters angepaßt. Während die Mitglieder des Gerichtshofs sich niederließen, verkündete der Gerichtsdiener: »Hört! Hört! Hört! Wer ein Anliegen vor den ehrenwerten Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zu bringen hat, wird aufgefordert, herbeizutreten und aufzumerken, denn der Gerichtshof läßt sich nun zur Sitzung nieder. Gott schütze die Vereinigten Staaten und dieses ehrenwerte Gericht!« Wieder ertönte der Hammer, und alle Anwesenden nahmen Platz.
Osterman saß als Vorsitzender in der Mitte der Richter. »Heute verkünden wir die Urteile in folgenden Angelegenheiten: Vereinigte Staaten gegen CMI und Lexcoll und Tennessee gegen Shreve. Richter Blake wird die beiden heutigen Urteile verlesen.«
»Vielen Dank, Herr Vorsitzender«, sagte Blake. Richter Blake stammte aus South Carolina und sein Südstaatenakzent war, obwohl er schon nahezu zehn Jahre Mitglied des Gerichts war, noch immer so auffällig wie am Tag seiner Vereidigung. Die auf den CMI-Fall fixierten Zuhörer hielten gebannt den Atem an, als Blake begann, das vorbereitete Dokument vorzulesen: »In der Angelegenheit des Staates Tennessee gegen Shreve geben wir der Klage statt und bestätigen das Urteil des Obersten Gerichtshofs von Tennessee.« Obgleich er wußte, daß die Menge dem zweiten Urteil entgegenfieberte, nahm Blake sich Zeit, die Erkenntnisse des Gerichts darzulegen.
Als er den ersten Fall abgeschlossen hatte, lehnte Blake sich zurück und verlagerte sein Gewicht. Dann räusperte er sich, griff nach dem Zinnkrug, wie er vor jedem Richter stand, goß sich ein Glas Wasser ein und bereitete sich auf das Verlesen des zweiten Urteils vor. Nachdem er sich mit seinem Taschentuch die Mundwinkel getrocknet hatte, setzte er ein gekünsteltes Lächeln auf. »In der Angelegenheit Vereinigte Staaten gegen CMI und Lexcoll sind wir der Ansicht, daß die beiden Unternehmen vereint zwar einen bedeutenden Telekommunikationskonzern darstellen werden, daß dies aber nicht im Hinblick auf die Schaffung eines Monopols geschieht. Aus diesem Grunde verstößt die Fusion der beiden Unternehmen nicht gegen das Kartellgesetz. Wir weisen daher die Klage ab und bestätigen das Urteil der Revisionsinstanz.«
Ein lautes Murmeln erhob sich in der Menge, als die Anwesenden die Raffinesse von Charles Maxwells kurz zuvor getroffener Entscheidung anerkannten, seine Beteiligung an Lexcoll zu erhöhen. Sekunden nach der Urteilsverkündung schaltete man im Zentralbüro die Sprechanlage zum Gerichtssaal ab und teilte der Pressestelle mit, daß die Entscheidung bekanntgegeben worden war. Unverzüglich verteilten die sieben Angestellten der Pressestelle Kopien des offiziel len Schriftsatzes an die im Untergeschoß versammelten Reporter, während zwei EDV-Spezialisten das Urteil in verschiedene juristische Datenbanken einspeisten. Im Gerichtssaal machten sich die Zeitungsreporter Notizen über die Stimmung der Richter; vor dem Gebäude rangelten mindestens zwei Dutzend Fernsehreporter um die beste Kameraposition und hofften, mit ihrer Story als erste auf Sendung gehen zu können. Als Richter Blake seine Darlegung der gerichtlichen Argumentation abgeschlossen hatte, besaßen bereits dreitausendsiebenhundertsechzig Menschen Kopien der Urteilsbegründung, sechs Millionen hatten das Ergebnis vernommen.
Weitere Kostenlose Bücher