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Der zehnte Richter

Der zehnte Richter

Titel: Der zehnte Richter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brad Meltzer
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Augenbrauen und das leichte Naserümpfen, wenn sie lachte. Selbst die Eigenheiten der beiden schienen sich zu entsprechen. Auf jede bissige Bemerkung Bens hatte seine Mutter eine noch heftigere Entgegnung parat.
    Ben griff wieder nach seiner vollgepackten Nylontasche, um Lisa und seiner Mutter ins Haus zu folgen. Als sie ins Wohnzimmer traten, rief Mrs. Addison: »Michael! Sie sind da!« Aus der Küche erschien Bens Vater, gekleidet in Jeans und ein verblichenes T-Shirt mit dem Wappen der Universität von Michigan.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Addison. Ich bin Lisa.«
    Bens Vater ergriff Lisas Hand. »Nennen Sie mich doch bitte Michael. Mr. Addison ist mein langweiliger alter Herr.« Sein Haar war länger, als Lisa erwartet hatte.
    Muß wohl noch aus der guten alten Hippie-Zeit stammen, dachte sie.
    »Bring doch mal Lisas Gepäck nach oben«, forderte Bens Mutter ihren Sohn auf. »Ich war nicht sicher, wie ihr es mit der Zimmerverteilung machen wollt, deshalb -«
    »Mom, wir sind noch kein einziges Mal miteinander ausgegangen«, sagte Ben.
    »Na, dann entschuldige bitte, alter Hagestolz.« Sie wandte sich an Lisa. »Da behauptet er, ihr beide wärt noch nicht miteinander ausgegangen, aber er hat noch keine Frau mit nach Hause gebracht seit dieser Lindsay - wie war doch ihr Name?«
    »Lindsay Lucas?« erwiderten Ben und Lisa im Chor.
    Bens Mutter lächelte. »Ich sehe, ihr habt schon darüber gesprochen.«
    »Ich verweigere mich weiteren Erklärungen.« Ben packte Lisas Tasche und ging zur Treppe. »Bin gleich zurück.« Zuerst ging Ben in sein altes Zimmer, um die Gerüche seiner Kindheit einzusaugen. Es war ein gutes, vertrautes, sicheres Gefühl, wieder daheim zu sein. Und wie bei jedem Besuch staunte er über die Illusion, daß alles um ihn herum kleiner geworden war - sein altes Bett, sein alter Schreibtisch, das Einstein-Poster an der Wand. Nach einem kurzen Blick ins Badezimmer stellte er Lisas Tasche ins Gästezimmer und ging hinunter in die Küche.
    »Uiiiiii«, stöhnte Lisa, als er durch die Tür trat. »Du warst aber wirklich süß!«
    »Das kann doch nicht wahr sein«, sagte Ben. »Sind das schon die Babyfotos? Wie lange hast du dafür gebraucht - zwei Minuten? Das ist ein neuer Rekord, Mom.«
    »Laß sie in Ruhe«, protestierte Lisa, noch immer ins Familienalbum versunken.
    »Wir sollten mal ein paar von unseren alten Filmen anschauen«, schlug Bens Vater vor.
    »Schlag dir das bloß aus dem Kopf, Dad«, warnte Ben. »Familienfilme haben eine Wartefrist von mindestens einer Nacht.«
    »Erzählen Sie mir doch noch ein bißchen, wie Ben als kleiner Junge war«, sagte Lisa.
    »Erzähl ihr doch davon, wie ich Jimmy Eisenberg angezündet habe.«
    »Pssst«, machte Bens Mutter, um sich wieder Lisa zuzuwenden. »Er war so intelligent. Schon mit zwei Jahren hat er lesen gelernt. Und als er vier war, hat er bereits Michaels Artikel verschlungen.«
    »Er hat einen Schreibfehler in einem meiner Manuskripte gefunden«, bestätigte Bens Vater stolz. »Erzähl Lisa doch, wie du ihn einmal auf dem Dach entdeckt hast ...«
    »Na, das war eine schöne Sache«, erklärte Bens Mutter. »Als Ben fünf Jahre alt war, konnte ich ihn einmal ganz spät abends nirgendwo finden. Ich war außer mir -«
    »Mom, du warst außer dir?« mischte sich Ben ein.
    »Ich war außer mir und hab' überall nach ihm gesucht. Ich hab' mir schon die Haare ausgerissen. Plötzlich höre ich ein Geräusch auf dem Dach. Ich bin zu Tode erschrocken, kann ich Ihnen sagen. Ich renne also auf den Dachboden, öffne die Luke zum Dach, und da sitzt Benjamin in seinem kleinen Schlafanzug mit einem Seil in der Hand. Ich brülle: Benjamin, was stellst du dir eigentlich vor, da rauszukriechen? Und er antwortet mir: Mommy, ich hab' doch bloß versucht, den Mond mit meinem Lasso einzufangen .« »Uiiiiii«, machte Lisa wieder. »Schon immer der kleine Überflieger.«
    »Schön, schön - die Vorstellung ist beendet.« Ben ging zur Küchentür. »Gute Nacht.«
    »Benjamin, komm sofort zurück«, befahl seine Mutter.
    Lisa sah vom Familienalbum auf. »Ist der Kleine da dein Bruder?«
    »Ja.« Auf Bens Gesicht erschien ein Lächeln; dann sah er seine Eltern an.
    Verwirrt verstummte Lisa.
    »Das ist Daniel. Er ist mit zwölf gestorben«, sagte Bens Vater. »Er hatte Leukämie.«
    »Das tut mir leid«, sagte Lisa. »Das konnte ich nicht wissen.«
    »Jetzt weißt du's.« Ben stand hinter Lisa und legte ihr die Hände auf die Schultern, um sie aufzumuntern.

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