Der zehnte Richter
»Mach dir keine Sorgen. Es ist schon gut.«
»Er war ein wundervoller junger Mann«, erklärte Bens Mutter stolz. »Ihr beide hättet euch bestimmt gut verstanden.«
»Danke.« Lisa war sich nicht sicher, was sie sonst sagen sollte.
»Vielleicht sollten wir jetzt ins Bett gehen.« Ben sah auf seine Armbanduhr. »Es ist bald Mitternacht.«
»Das ist eine gute Idee.« Bens Mutter legte die Fotoalben zu einem geraden Stapel zusammen. »Was habt ihr morgen eigentlich vor?«
»Ich schätze, wir werden tagsüber in die Stadt fahren. Lisa war noch nie in Boston. Und zum Abendessen sind wir bei Nathan eingeladen.«
»Richtig.« Bens Mutter stand vom Küchentisch auf. »Joan hat's mir schon gesagt. Aber paß auf, daß wir euch wenigstens für ein paar Stunden zu Gesicht bekommen.«
»Bestimmt, Mom. Mach dir keine Sorgen.«
»Nochmals vielen Dank für die Einladung«, sagte Lisa, bevor sie mit Ben die Küche verließ.
Keiner der beiden sagte ein Wort, bis sie im Obergeschoß angekommen waren. »Tut mir leid, daß ich mit deinem Bruder angefangen habe«, sagte Lisa schließlich, als sie das Gästezimmer betraten.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Ben freundlich. »Es ist schon eine Weile her, und wir können damit inzwischen umgehen.«
»Es muß ein furchtbarer Verlust gewesen sein.«
Ben setzte sich auf den weißen Schleiflacktisch in der Ecke des Zimmers. »Es war wirklich schlimm. Als er zehn war, hat man bei ihm Diabetes festgestellt. Das hat natürlich zu Komplikationen geführt, als die Leukämie auftrat. Er war eine medizinische Katastrophe.«
»Wie alt warst du bei seinem Tod?«
»Vierzehn.« Ben stellte seine Füße auf den Stuhl vor dem Tisch. »Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich konnte monatelang kaum schlafen, mußte dann mit einem Freund meines Vaters sprechen, der Familienpsychologe ist. Meine Mutter war vollkommen erledigt. Wenn mein Vater nicht gewesen wäre, säßen wir heute wahrscheinlich alle in der Klapsmühle. Er hat damals wirklich alles zusammengehalten.«
»Deine Eltern sind toll.« Lisa hatte sich aufs Bett gesetzt.
»Stimmt«, gab Ben zu.
»Mich wundert bloß, daß du dich so positiv entwickelt hast. So ein Versuch, den Lieblingssatelliten unseres Planeten mit dem Lasso zu fangen, kann einen schon ein wenig verrückt machen.«
»Ha, ha. Du bist wirklich stark.«
Lisa schleuderte ihre Tennisschuhe von sich. »Jetzt erzähl mir doch mal, was im Flugzeug zwischen dir und Eric vorgefallen ist. Er hat auf der ganzen Fahrt hierher kein Wort gesagt.«
»Nichts weiter. Ich will mit diesem Scheißdreck einfach nichts mehr zu tun haben.«
»Gut«, kommentierte Lisa. »Ich hab' mir schon Sorgen gemacht, du würdest ihm mit der Zeit tatsächlich vergeben.«
»Unmöglich«, erklärte Ben. »Ich liebe meine Freunde. Ich würde alles für sie tun. Auch für dich. Aber das Leben ist zu kurz, um die Zeit mit irgendwelchen Arschlöchern zu vergeuden.«
»Ich glaube, es geht gar nicht darum, ob er ein Arschloch ist oder nicht. Was er getan hat, muß dein Vertrauen in ihn zerstört haben. Und was mich betrifft, ist das das Schlimmste, was man einem Freund antun kann.«
»Glaub mir, das brauchst du mir nicht zu erzählen. In Anbetracht von Rick und Eric ist Vertrauen die Problemtugend des Jahres.«
Als Ben am folgenden Tag gegen Mittag in die Küche kam, waren Lisa und seine Mutter ins Gespräch vertieft. »Schau, schau, wer sich endlich entschlossen hat, zu uns zu stoßen«, sagte Bens Mutter. Sie war dabei, Gemüse für das Festmahl des nächsten Tages zu schneiden. Ohne sich von Bens frisch geduschtem und glattrasiertem Äußeren täuschen zu lassen, bemerkte sie die Müdigkeit in den Augen ihres Sohnes. »Wann seid ihr gestern nacht ins Bett gegangen?«
»So gegen vier«, sagte Lisa.
Bens Mutter ließ ihr Messer aufs Schneidbrett fallen und sah sie ungläubig an.
»Mom, beruhige dich.« Ben rollte die Augen. »Wir haben uns bloß unterhalten. Ist das in Ordnung?«
»Das geht mich gar nichts an«, erwiderte seine Mutter. »Ich hab' ja auch kein Sterbenswörtchen gesagt.«
»War auch nicht nötig.« Ben wandte sich an Lisa. »Wie kommt es bloß, daß du so wach bist?«
»Ich kann nicht lange schlafen«, erklärte Lisa. »Ich bin schon seit sieben auf.«
Genüßlich gähnend streckte sich Ben zur Decke. »Du spinnst. Schlaf ist die Quelle des Lebens.«
In seinen Satz hinein läutete das Telefon. Bens Mutter unterbrach wieder das Gemüseschneiden, um den Hörer abzunehmen.
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