Der zehnte Richter
»Hallo?« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Ja, er steht direkt neben mir. Einen Moment, bitte.« Sie sah Ben an. »Es ist für dich. Jemand namens Rick.«
Bens Gesicht wurde aschfahl. Überrascht von der Reaktion ihres Sohnes, reichte seine Mutter ihm den Hörer. Ben dehnte das Kabel so stark, bis er fast im Nebenzimmer stand. »Hallo?«
»Tag, Ben«, sagte Rick. »Wie geht's zu Hause?«
Ben zog noch stärker an dem Kabel, um im Eßzimmer verschwinden zu können. »Was willst du?«
»Gar nichts«, antwortete Rick. »Ich wollte bloß hören, ob bei euch alles in Ordnung ist. Und ich wollte dir und deiner Familie ein wunderschönes Thanksgiving wünschen. Ist das nicht erlaubt?«
»Nein, das ist nicht erlaubt.« Ben bemühte sich, seine Stimme zu dämpfen. »Ich lege jetzt auf. Wenn du mit mir reden willst, ruf mich an, wenn ich wieder in Washington bin. Ansonsten - laß meine Familie in Ruhe.«
»Ben, ich wollte dir und deiner Familie wirklich bloß ein schönes Thanksgiv...«
Ben drückte den Hörer auf die Gabel, zwang sich zu einem Lächeln und ging wieder in die Küche.
»Ist alles in Ordnung?« fragte seine Mutter besorgt. »Wer war das denn? Wer ist dieser Rick?«
»Nur ein Kollege am Gerichtshof«, erklärte Ben. »Wir hatten eine Auseinandersetzung wegen eines bestimmten Verfahrens, und er wollte darüber reden. Es ist nicht weiter wichtig.«
»Benjamin, lüg mich nicht an.«
»Mom, ich lüge nicht!« sagte Ben nachdrücklich. »Es war ein Widerling aus dem Gericht, mit dem ich nie derselben Meinung bin. Es ist schon gut. Wir werden die Sache bald bereinigen.«
Bevor seine Mutter ein weiteres Wort sagen konnte, war Ben im Flur verschwunden. »Komm schon, Lisa!« rief er von der Haustür aus.
Schweigend stieg Ben ins Auto seiner Mutter, die Lippen wütend aufeinander gepreßt. Er ließ den Wagen schon aus der Einfahrt rollen, als Lisa die Tür aufriß und hineinsprang.
»Brauchst gar nicht anzuhalten«, sagte sie, während Ben auf die Straße zurücksetzte. »Bin schon da.« Da keine Antwort folgte, fragte sie: »Was hat er denn gesagt?«
»Nichts. Er hat mir nur ans Bein gepinkelt.«
»Das hab' ich mir schon gedacht. Und jetzt erzähl mir, was er gesagt hat.«
»Ich will wirklich nicht darüber sprechen«, erklärte Ben. »Heute will ich nur den Tag genießen.«
»Jetzt sag mir doch wenigstens -«
»Bitte«, flehte Ben. »Laß es uns doch einfach vergessen.«
Lisa schwieg, bis sie auf den Massachusetts Turnpike einbogen. »Erzählst du mir wenigstens, wohin wir fahren?«
Ben atmete tief ein. »Zuerst geht's nach Beacon Hill, wo du nicht nur einige der bemerkenswertesten Gebäude unserer schönen Stadt bewundern, sondern auch Vito's umgedrehte Pizza kosten wirst.«
»Vito's umgedrehte was?« »Wir werden in einem Lokal namens Vito's speisen, wo man zwei aufeinanderliegende Pizzascheiben serviert. Und jetzt hör auf, mir die Vorfreude zu verderben.« Mit gesetzter Erzählerstimme fuhr Ben fort: »Danach werden wir durch die Boston Commons zur Stadtmitte spazieren.«
»Kommen wir auch an der Bar vorbei, die man immer im Vorspann von Cheers sieht?«
»Nein, da kommen wir nicht vorbei. Wir folgen auch nicht dem Freedom Trail. Stattdessen wirst du die Stadt aus einheimischer Perspektive sehen. Das bedeutet natürlich, daß du die U.S.S. Constitution, besagte Bar, die Faneuil Hall und all den anderen touristischen Blödsinn verpassen wirst, den die Menschheit so gern abfotografiert, aber dafür wirst du wirklich was über die Stadt erfahren.«
»Ich fühl' mich jetzt schon ungemein gebildet.«
»Und wenn du Glück hast, zeige ich dir auch noch meinen Lieblingsplatz.«
»Wir gehen in die Bibliothek?«
»Ich kann jederzeit anhalten«, warnte Ben.
»Ich werde brav sein. Versprochen.« Lisa zog einen imaginären Reißverschluß über ihre Lippen.
Um halb fünf Uhr nachmittags lenkte Ben den Wagen auf einen kleinen, ungeteerten Parkplatz am Memorial Drive. Sonst war kein Wagen zu sehen. Lisa sah sich argwöhnisch um. »Wenn das der alte Standort für deine fahrbare Liebeshöhle ist, wird mir gleich übel.« »Davon kann keine Rede sein.« Ben stellte den Motor ab. »Ich hab' dir doch gesagt, daß ich dich zu meinem Lieblingsplatz bringen werde. War irgendeine meiner bisherigen Ankündigungen gelogen?«
»Auf dem Copley Square war kein einziges Skateboard zu sehen.«
»Das liegt an der Kälte«, erklärte Ben. »Aber abgesehen davon.«
»Die Straßenkünstler auf dem Harvard Square
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