Der Zeichner der Finsternis
dafür ins Feuer gelegt, dass es Eisenmann war, beziehungsweise Hermann Wulf. Aber was nach der Geburt aus Marta geworden war und weshalb sie ihr Baby Wulf überlassen hatte, würde ich wohl nie erfahren, weil David es auch nicht gewusst hatte. Damit hätte auch Onkel Hank mit seiner Vermutung recht, dass ein Dienstmädchen das Kind zur Welt gebracht hatte, denn ich wusste aus einer meiner Visionen, dass Marta Catherine Blevertons Angestellte gewesen war. (Das durfte ich Sarah leider noch nicht verraten, aber der Gentest würde es an den Tag bringen.)
Trotzdem blieben etliche Fragen offen. Warum war das Haus der Witeks abgebrannt? Warum hatte Daecher Wulf nie auffliegen lassen? (Vermutlich hatte sich der falsche Eisenmann Daechers Schweigen erkauft.) War Catherine Bleverton wirklich betrunken aus dem Boot gefallen, oder hatte sie jemand über Bord gestoßen, weil sie die Wahrheit ahnte oder erraten hatte?
Ich setzte hinzu: »Und der Brand in der Synagoge ist auch noch nicht aufgeklärt.«
»Manche Rätsel lassen sich eben nicht aufklären, und wenn man noch so tief in der Vergangenheit gräbt. Stell dir lieber die Frage, wie du mit deiner eigenen Vergangenheit umgehen willst.«
»Sie meinen … mit meiner Mutter? Woher wissen Sie, dass ich das Raunen wieder höre?«
»Das weiß ich gar nicht. Ich hatte nur so ein … Gefühl. Eine Vorahnung, könnte man auch sagen.«
Ich staunte immer wieder, dass sie mir tatsächlich glaubte und ihre Skepsis zurückstellte. Das ging über therapeutisches Einfühlungsvermögen hinaus, fand ich.
»Also – was hast du vor?«, fragte sie.
»Weiß nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Meine Mutter sucht nach mir. Die Stimmen rufen mich. Was würden Sie denn tun, wenn Ihre Mutter Hilfe braucht?«
Sie schwieg lange, dann erwiderte sie: »Das kann ich dir nicht so aus dem Stand beantworten. Es geht ja nicht darum, dass du deine Mutter aus einem brennenden Haus retten oder ihr eine neue Bleibe suchen müsstest. Du weißt nicht, ob der lange Aufenthalt auf der anderen Seite sie nicht verändert hat. Womöglich ist sie nicht mehr die Mutter, an die du dich erinnerst.
Keine Mutter bleibt immer die Gleiche, und zwar nicht nur, weil sie selbst sich verändert, sondern weil sich die Kinder verändern. Kind bleibt man zwar immer, aber das Leben geht weiter. Zum Elternsein gehört auch, dass man verlassen wird.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sobald ein junger Mensch zu Hause auszieht, ändert sich das Verhältnis. Wenn du mal so weit bist, wirst du auch nichtmehr zurückwollen. Und Hank hätte als dein Ersatzvater versagt, wenn er darauf bestehen würde.«
»Na ja, es fällt ihm schon schwer, mich loszulassen …« Ich erzählte ihr von der Geschichte mit Dekker. »Dann hat er wohl versagt.«
»Dass er bei der Vorstellung, dich loszulassen, gemischte Gefühle hat, finde ich nur verständlich. Da geht es ihm nicht anders als den allermeisten Eltern. Du bist sein nächster und einziger Angehöriger, und er sieht bei seiner Arbeit viel Schreckliches. Er weiß nur zu gut, was alles passieren kann. Das übermäßige Sorgenmachen ist bei ihm auch eine Berufskrankheit. Trotzdem – er ist hier, und er ist immer für dich da. Du brauchst nur die Hand auszustrecken.«
Wir wechselten das Thema und besprachen, wann ich wieder nach Espenwald kommen sollte. Dr. Rainier war dafür, dass ich mit meinen Sozialstunden weitermachte. Sie war zuversichtlich, dass ich meine … Gabe … besser in den Griff bekommen würde und womöglich noch anderen Bewohnern helfen konnte, sich selbst wiederzufinden. Ich durfte mich nur nicht in wieder in den Sog von Wut und Tod begeben, beziehungsweise solche Gefühle bei den Leuten anzapfen.
»Du willst doch bestimmt nicht ab heute ein Einsiedlerdasein führen und dich verkriechen, damit keiner an dich rankommt und umgekehrt, oder? Ich möchte, dass du dir Mühe gibst, in der Gegenwart zu leben und im Kontakt mit deinen Mitmenschen zu bleiben.«
Ich versprach ihr jedenfalls, es zu versuchen.
+ + +
Als wir schon an der Tür standen, sagte sie noch etwas Merkwürdiges.
»Ich weiß, dass du eine schwere, dunkle Zeit durchmachst, Christian. Dass du am liebsten flüchten würdest. Dass du jetzt nur das Negative siehst und unglücklich bist. Die Welt ist voller Abgründe, und die Heerscharen der Finsternis liegen immer auf der Lauer. Aber denk dran«, sie fasste mich an den Schultern, »es gibt auch die Heerscharen des Lichts. Nenn es Seele, nenn es Gott, nenn es
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