Der Zeichner der Finsternis
kletterte in einem Affentempo wieder nach unten. »Ich hab’s!«
Ich rannte los. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein entsprungener Irrer: wilder Blick, zerzaustes Haar und blutverschmierte Klamotten (vom Nasenbluten). Onkel Hank und Dr. Rainier riefen mir etwas nach, aber ich blieb nicht stehen. Das hohe Gras schlang sich um meine Beine und wickelte sich um meine Turnschuhe, doch ich war nicht zu bremsen. Als ich an die Espengruppe kam, flatterten die Krähen krächzend auf wie eine schwarze Wolke. Ich bahnte mir einen Weg durchs Unterholz, schlug Ranken und Zweige beiseite, bis ich davorstand.
Da lagen sie.
Onkel Hank und Dr. Rainier kamen angekeucht. »Was ist denn in dich gefah…«, setzte Onkel Hank an.
Ich hielt ihm einen unter die Nase. Die Unterseite trug den Stempel › Gold & Brick 1941 ‹. »Das sind die Ziegel aus der Scheune. Vom Fußboden.«
»Aber warum wurde das arme kleine Ding eingemauert?«, fragte Dr. Rainier. »Marta war doch nur ein Hausmädchen. Kein Mensch hätte sich darüber aufgeregt.«
»Das Baby war zugleich ein Beweis und eine Mahnung«, erklärte Onkel Hank feierlich. »Der Mörder wollte ganz sicher gehen, dass alle Witeks zum Schweigen gebracht waren.«
XXXII
Schade, dass ich nicht dabei sein konnte, als Onkel Hank und Justin Brandt Eisenmann mitnahmen, sondern mir alles erzählen lassen musste.
Onkel Hank beschloss, das Ende des Gottesdienstes abzuwarten. Er wollte sichergehen, dass er Eisenmann auch wirklich antraf und dass der Alte nicht vorher Wind von der Sache bekam. Darum postierte er sich mit Justin gegenüber von Sankt Lukas. Schlag elf – der Pastor von Sankt Lukas ist ein Pünktlichkeitsfanatiker – kamen die Kirchgänger einer nach dem anderen heraus. Manche schauten neugierig zu den beiden Beamten hinüber und wunderten sich, dass sich der Sheriff und sein Stellvertreter ausgerechnet vor ihrer Kirche die Beine in den Bauch standen.
Schließlich kam auch Eisenmann in seinem Maßanzug herausgeschlurft. Die goldene Uhrkette auf seiner Weste funkelte in der Sonne. Er plauderte mit dem Pastor und stieß ab und zu zur Bekräftigung seiner Worte den Stock mit dem goldenen Wolfskopf-Knauf auf den Boden. Als Onkel Hank die Vortreppe hochkam, drehte Eisenmann sich um und sagte: »Nanu, Sheriff! Was führt Sie an diesem wunderschönen Sonntag zu uns Lutheranern? Gehören Sie nicht der Vereinigten Kirche Christi an? Hoffentlich wollen Sie mich nichtnoch einmal um Nachsicht für Ihren Neffen bitten. Was das betrifft, kann mich nämlich auch das üppigste Sonntagsmahl nicht umstimmen, christliche Nächstenliebe hin oder her.« Er fand sich anscheinend sehr witzig, denn er verzog das vernarbte Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
Onkel Hank ging nicht darauf ein, sondern entgegnete ganz ruhig: »Es geht um Folgendes, Mr Eisenmann: Ich habe etwas gefunden, das Sie vor langer Zeit verloren haben. Vielleicht möchten Sie gern einen Blick darauf werfen.«
Eisenmann wurde wieder ernst und runzelte die Stirn. »Verloren? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Sie meinen könnten, Hank.«
»Bitte sehr.« Onkel Hank hielt ihm zwei Plastikbeutel hin. Der eine enthielt Charles Eisenmanns goldenen Siegelring, der andere die Erkennungsmarke aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Deutschen hatten die Rille in der Mitte eingestanzt, damit man die Marke durchbrechen konnte. Eine Hälfte verblieb zur leichteren Identifizierung bei dem Toten, die andere Hälfte diente dazu, die Zahl der Gefallenen auf den aktuellen Stand zu bringen. Aus dem gleichen Grund sind amerikanische Soldaten heute mit zwei Erkennungsmarken ausgestattet – im Zweiten Weltkrieg war Metall allerdings Mangelware.
Von Justin weiß ich, was dann geschah. Über Eisenmanns entstelltes Gesicht ging ein Ausdruck des Staunens, nur die Krokodilstränen liefen ihm unverändert über die Wange. Einen kurzen Augenblick bröckelte die Fassade des Mannes, der sich Charles Eisenmann nannte. Sein Blick wurde erst ungläubig, dann erschrocken – und dann irgendwie nicht mehr richtig menschlich.
Eisenmann rang um Fassung. Er stieß ein heiseres Kichern aus, gleichzeitig wurde er leichenblass, von den feuerrot leuchtenden Narben abgesehen. »Was soll das, Sheriff?«
»Das wissen Sie ganz genau.« Onkel Hank legte ihm die Hand auf den Arm. »Wenn Sie bitte mitkommen würden … Da drüben steht mein Wagen. Wir brauchen uns nicht unbedingt in aller Öffentlichkeit darüber zu unterhalten.«
Erst da schien Eisenmann die Umstehenden
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