Der Zeichner der Finsternis
wahrzunehmen – die Mitglieder seiner Gemeinde, die stets geglaubt hatten zu wissen, wer er war. Er sagte leichthin: »Ich habe leider keine Zeit. Mein Mittagessen wartet.«
»Dann lassen Sie es warten. Kommen Sie bitte mit uns … Herr Wulf.«
Damit sei die Sache klar gewesen, erzählte Justin. Eisenmanns schiefem Mund entrang sich ein Ächzen und er schwankte. Er wäre hingefallen, hätten ihn Onkel Hank und Justin nicht bei den Armen gefasst und gestützt. Die Leute steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, als die beiden Beamten den taumelnden Alten abführten.
»Stoßen Sie sich nicht den Kopf«, sagte Onkel Hank, als er Wulf auf den Rücksitz verfrachtete und ihm den Stock mit dem Wolfskopf aus dem kraftlosen Griff wand. (Bestimmt hatte es dem falschen Eisenmann einen Heidenspaß gemacht, die Leute mit einem Symbol zu verhöhnen, dessen Bedeutung nur er kannte und das nicht nur für seinen richtigen Namen stand, sondern auch für seine Panzereinheit.) »Den nehme ich lieber an mich, wenn’s recht ist.«
Eisenmann – beziehungsweise laut Mordechai Witeks Skizzenbuch Hermann Wulf, Nummer 31G-3945 – schaute flehend zu Onkel Hank auf. Seine Lippen bebten, und Justinberichtete, ihm seien echte Tränen über die verunstalteten Wangen gelaufen.
»Man kann mich doch nach so langer Zeit nicht mehr hinrichten, oder?«, fragte der Alte ängstlich. »Außerdem war Witek bloß ein Jude.«
»Am besten sagen Sie jetzt gar nichts mehr.« Onkel Hank beugte sich ins Auto und gurtete Wulf an. »Auf Ihre letzte Bemerkung möchte ich nur erwidern: Witek war ein Mensch, ein Familienvater – wie so viele.«
Echt schade, dass ich nicht dabei sein konnte! Aber wenn ich mir vorstelle, wie die braven Bürger von Winter dem Streifenwagen nachschauten, kommt mir noch eine andere Frage: Wie viele haben etwas geahnt? Womöglich etwas gewusst?
+ + +
Stattdessen schlief ich den ganzen Tag wie ein Toter. Kurz nach fünf kam Onkel Hank nach Hause, aber ich hörte ihn nicht. Ausnahmsweise schlief ich tief und fest. Falls ich etwas träumte, konnte ich mich jedenfalls nach dem Aufwachen nicht daran erinnern.
Als ich wach wurde, war es längst dunkel, und im Haus war es still. Im Haus schon, aber … Ich blieb reglos liegen und hoffte, dass ich mich irrte. Leider nicht.
Mist. Und jetzt?
Mein Wecker zeigte 8:13 , und ich hatte Hunger. Ich tappte die Treppe runter, machte mir eine Schüssel Schoko Smacks und aß im Stehen. Als ich mich wieder einigermaßen wie ein Mensch fühlte, spülte ich die Schüssel ab, goss mir einenkalten Orangensaft ein und trank das Glas in einem Zug leer.
Dann stand ich reglos da und lauschte. Wie erwartet, hatte das Essen nicht viel geholfen. Ich kam auf die Idee, Dr. Rainier anzurufen.
Daraufhin stellte ich fest, dass der Anrufbeantworter wie wild blinkte. Angezeigt wurden acht Anrufe, aber die ersten fünf Anrufer hatten nichts aufs Band gesprochen. Wahrscheinlich hatten sich irgendwelche Leute erkundigen wollen, was vor der Kirche los gewesen war. (Onkel Hank schimpfte immer, die Leute würden einfach nicht kapieren, dass es nicht Aufgabe der Polizei war, Klatsch und Tratsch zu verbreiten.)
Der sechste Anruf war von Sarah. »Hi, Christian … ich hab gehört, was in der Scheune passiert ist … na ja, zum Teil. Die Radartypen haben bei Gina gefrühstückt und ein bisschen zu laut geredet oder so. Egal, ich find’s cool und hoffe, dass du dich davon erholt hast und meine Halloween-Party am Samstag nicht vergisst. Um sieben geht’s los. Wir wollen alberne Spiele machen, Apfeltauchen und so. Wird bestimmt lustig. Sehen wir uns in der Schule? Okay, also, bis dann.«
Die Stimme des nächsten Anrufers erkannte ich sofort wieder. »Hallo, Christian, hier ist Rabbi Saltzman. Wir haben am Freitag miteinander telefoniert. Ich wollte dich zurückrufen, aber eine Frau Dr. Rainier ist mir zuvorgekommen. Sie hat mich heute Vormittag angerufen, gleich nach meinem Unterricht in der Sonntagsschule. Ich muss wohl etwas weiter ausholen. Gleich nach unserem Telefonat habe ich im Altenheim angerufen und erfahren, dass David gestorben ist. Ich habe mich mit seinem Nachlassverwalterin Verbindung gesetzt, einem Anwalt, und … oje, hoffentlich ist das Band nicht gleich voll! Jedenfalls meinte Dr. Rainier, dass die Polizei noch nach den Überresten weiterer Familienangehöriger sucht, und ich komme nach Winter, wahrscheinlich nächste Woche. Wollen wir uns treffen? Ruf mich doch mal an, dann machen wir einen Termin
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