Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
Vom Netzwerk:
gezogen und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Ohne Kopfhörer hätte ich wahrscheinlich gehört, wie er schnarchte.
    Die Sonne brannte mir auf Rücken, Kopf und Arme. Ich schmorte vor mich hin. Nach einer halben Stunde war ich von oben bis unten durchgeschwitzt. Sogar meine Kniekehlen waren klatschnass, und die Latexhandschuhe klebten mir an den Händen. Ich hatte ein paar Flaschen Gatorade dabei, aber davon musste ich pinkeln. Ich hätte natürlich einfach von oben runterpinkeln können – das hätte bestimmt einen coolen Bogen gegeben –, aber ich hatte so schon genug Ärger und verkniff es mir.
    Ich hielt mich ran. Ich bin nicht besonders sportlich, aber ich habe kräftige Arme. Ich trug den Abbeizer von rechts nach links mit breiten Pinselstrichen auf. Als die ganze Fläche bedeckt war, hatte das Zeug dort, wo ich angefangen hatte, ungefähr eine Stunde eingewirkt, und ich konnte gleich mit dem Abkratzen weitermachen. Aber wenn ich noch ein paar Stunden weiterschabte und -kratzte, würden mir die Arme abfallen. Konnte ich nicht eine kabellose Schleifmaschine oder einen Wasserhochdruckreiniger auftreiben? Per Hand dauerte das Ganze ja noch bis zum nächsten Sommer!
    Als ich zum vierten Mal vom Gerüst kletterte, wachte Justin auf, schmatzte, reckte sich gähnend, blinzelte zu mir hoch und fragte: »Alles klar?«
    »Mhmmm.« Ein Hakenkreuz war zur Hälfte verschwunden. Das Gras unter dem Gerüst war mit roten und grauen Bröseln übersät, und auf der Bretterwand prangte ein unregelmäßiger hellgrauer Fleck wie eine Flechte. Ich ließ die Schultern kreisen. Mein Nacken war total verspannt. »Aber auf die Art werde ich nie fertig. Das dauert Jahre. Jedenfalls viel, viel länger als die achthundert Sozialstunden.«
    Justin grinste. »Ich sag’s ja, Eisenmann ist ein Sadist. Aber ich hab einen Cousin, der in seiner Freizeit tischlert. Ich kann ihn ja mal fragen, ob er uns fürs nächste Mal einen Schwingschleifer oder so was leiht. Mit Streichen kenne ich mich nicht so aus, aber da gibt es bestimmt auch eine arbeitssparende Lösung.«
    »Bestimmt.« Ich wischte mir mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht. Ich stank penetrant nach Sonnenmilch, die ich wegen des Schutzanzugs gar nicht brauchte. »Das wär super.«
    »Komm, wir machen Mittagspause. Bist eingeladen.«
    Aber ich schüttelte den Kopf. »Ich würde lieber weitermachen. Wenn ich jetzt Pause mache, kann ich mich hinterher nicht mehr aufraffen.«
    Das konnte Justin gut verstehen. Er meinte, dann würde er in die Stadt fahren, Sandwiches und was zum Trinken kaufen, und wäre gleich wieder da. »Du kommst doch kurz allein zurecht, oder?«
    »Klar. Hier ist ja keiner außer mir und den Schwalben.«
    + + +
    Kaum war die rote Staubfahne von Justins Streifenwagen verschwunden, fing das Raunen wieder an.
    Ich war schon wieder oben auf dem Gerüst, als es losging. Ganz plötzlich wurde mein Arm steif, die Spachtelklinge drückte sich ins Holz und ich zitterte krampfhaft. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, und mir klapperten die Zähne wie damals, als ich klein war und Grippe hatte. Hatte ich mir einen Hitzschlag eingefangen? Aber dabei schwitzte man eigentlich nicht.
    Dann ebbte das Frösteln ab und das Raunen setzte ein.
    Komischerweise erschrak ich nicht besonders darüber. Gewöhnte ich mich etwa daran, dass ich verrückt war? Machten sich Verrückte über so etwas überhaupt Gedanken? Mir fiel auf, dass ich auf einmal alles irgendwie … überdeutlich wahrnahm. Die leere Fensterhöhle über mir gähnte mich immer breiter an. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: Das Raunen … die Stimmen … sie wollten, dass ich nach drinnen ging. Warum eigentlich nicht? Die Hitze hier draußen war nicht zum Aushalten und der Boden so weit weg …
    Die Krähen waren zurückgekehrt. Sie gruben die Krallen in den Dachfirst. Die Blicke aus ihren glänzenden Knopfaugen bohrten sich mir in den Rücken, als ich mich durchs Fenster hievte. Drinnen fiel mir als Erstes der Geruch auf, was ganz untypisch für mich ist, denn eigentlich bin ich ein Augenmensch. Es roch schwach nach sonnenheißem Wiesenheu und Pferdemist, außerdem nach frischer Vogelkacke. Mit klopfendem Herzen tappte ich eine Art Laufplanke entlang, die einmal oben um den Heuboden herumführte, bis ich an eine windschiefe Leiter kam. Die Leiter knarrte und quietschte, und ich war schon darauf gefasst, dass die Sprossen unter meinem Gewicht durchknackten und ich in die Tiefe stürzte. Aber ich schaffte

Weitere Kostenlose Bücher