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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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der Junge. Er war höchstens sieben, acht Jahre alt, viel jünger als ich. Ansonsten war er mager, hatte dichtes braunes Haar und große braune Augen.
    Mein Mund war völlig ausgetrocknet »Wie … wer …?«, stotterte ich, aber sein Name lag mir schon auf der Zunge: »Pavel.«
    »Was ist? Worauf wartest du, David? Komm endlich!«
    »Wohin denn?« Und dann: » Wie hast du mich genannt?«
    Pavel schnaubte wie ein Pferd. »Lass den Quatsch. Du kannst das jeden Tag machen, aber ich hab nicht so oft die Gelegenheit, also komm jetzt!« Er lief zu der Leiter und kletterte sie hoch wie ein Äffchen. Die Sohlen seiner nackten Füße waren schwarz vor Dreck. Er hatte eine schmuddelige Cordhose an.
    Ich schaute an mir herunter. Statt des farbverkleckstenSchutzanzugs trug ich eine staubige Latzhose aus Jeansstoff und ein weißes, kurzärmeliges Hemd. Hä? Ich zupfte an dem Stoff und stellte erschrocken fest, dass mit meinen Händen etwas nicht stimmte. Sie waren kleiner geworden, die Handgelenke waren knochiger. Auf dem rechten Handrücken hatte ich eine Narbe.
    Das war ich nicht. Ich war …
    »David!« Pavel reckte sich nach dem Seil. »Mach schon, du Schisser!«
    »Ich …« Ich rappelte mich hoch. Ich war ebenfalls barfuß. »Warte doch mal …«
    »JUHUUU!« Pavel stieß sich ab. Er schwang in weitem Bogen durch die Luft wie ein Trapezartist. Am höchsten Punkt ließ er los. Mit einem Tarzanschrei plumpste er wie ein Stein in die Tiefe und verschwand in dem Luzernehaufen. Doch schon tauchte sein Kopf wieder auf. »Na los, oder willst du den ganzen Tag da rumstehen?«
    »N-nein.« Ich setzte mich in Bewegung. Meine Glieder waren ein bisschen steif, als wäre ich ein Android, der sich erst an seinen neuen Körper gewöhnen muss … was es vermutlich ganz gut traf. Bei jedem Schritt übernahm der Körper, in dem ich steckte, ein bisschen mehr das Steuer, und mein eigentliches Ich nahm sozusagen auf dem Rücksitz Platz und beobachtete das Ganze. Ich spürte, wie mein Bewusstsein – wie ich , Christian – in den Hintergrund trat. Als meine Hände beziehungsweise die des unbekannten Jungen das Seil packten, war ich nicht mehr ich, sondern schon fast …
    »David!« Von hier oben war Pavel klein wie ein Käfer. Er legte den Kopf in den Nacken und breitete die Arme weit aus. »Spring! Trau dich!«
    Mir schlug das Herz bis zum Hals, aber ich stieß mich ab. Das Haar flatterte mir lang und zottelig um die Ohren, die Scheune verschwamm vor meinen Augen. Beinahe hätte ich den richtigen Augenblick zum Loslassen verpasst, doch zum Glück übernahm das der Körper des unbekannten Jungen und löste meinen/seinen Griff. Der Luzerneberg kam auf mein/sein Gesicht zugesaust und
    + + +
    Mich umfängt süßlicher Luzerneduft. Ich strample mich aus dem Haufen heraus, lache und pruste.
    Pavel strahlt. »Das war toll! Los, gleich noch mal!«
    Jetzt bin ich froh, dass ich Pavel in die Scheune mitgenommen habe, auch wenn es Mama nicht recht wäre. Der Krieg ist zwar zu Ende, aber es ist immer noch alles rationiert, auch das Waschmittel. Ich schaue in die Richtung von unserem Haus und erkenne die beiden Schornsteine. Oben am Fenster steht meine Mutter und schüttelt einen Läufer aus. Ich freue mich, weil Sommer ist und wir Ferien haben – und weil uns die Deutschen endlich in Ruhe lassen.
    Doch dann blicke ich nach Osten. Dort liegt das Städtchen mit den vertrauten Schornsteinen, dem Glockenturm und dem spitzen, hohen Turm der evangelisch-lutherischen Kirche mit seinem großen, golden blinkenden Kreuz. Ich sehe auch die leuchtend blaue Zwiebelkuppel mit den kleineren Kuppeln drum herum, die mich immer an Mamas Matroschkapuppen erinnern. Kennst du diese Puppen? Wenn man die größte aufmacht, steckt eine kleinere drin und immer so weiter, bis die letzte Puppe kaum größer ist als einFingernagel. Daran erinnert mich die Kuppel der weißen Dame immer.
    (Weiße was ?)
    Ich zucke zusammen. Dieser letzte Gedanke … kommt nicht von mir. Das bin nicht ich. Da ist noch jemand in mir und
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    Ich … Christian … ich spüre, wie der unbekannte Junge zusammenfährt, als hätte er plötzlich gemerkt, dass ich mit seinen Augen sehe. Offenbar verzieht er dabei das Gesicht, denn sein Freund Pavel fragt erschrocken: »Was hast du denn, David? Ist dir schlecht?«
    »Ich …« Mir wird schwindlig, ich schwanke, meine Hand greift nach oben, will sich an einem Balken festhalten …
    »He, pass auf!« Pavel packt mich am Arm, und wir stolpern beide vom

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