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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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habe noch nie jemandem von meinem Vater erzählt, schon garnicht einem Klienten. Und außerdem, was soll schon Schlimmes passieren?«
    »Das kann ich Ihnen sagen! Das Schlimme ist, dass ausgerechnet Sie die Spinnereien des armen Jungen noch unterstützen!«
    Mir platzte der Kragen: »Ich bin kein armer Junge, und es geht nicht um irgendwelche Spinnereien, kapierst du das endlich? Es ist wie bei Miss Stefancyzk und bei Lucy. Da habe ich mich nicht eingemischt, aber ich habe das Schicksal gemalt, das ihnen bevorstand, und bei Tante Jean war es dasselbe …« Ich biss mir auf die Zunge, aber es war schon heraus.
    Auf Onkel Hanks Gesicht malten sich erst langsames Begreifen und dann äußerste Fassungslosigkeit. Dann sagte er leise und drohend: »Wie bitte?«
    Dr. Rainier kam mir zu Hilfe: »Darum geht es jetzt doch gar nicht, Hank.«
    Er überhörte sie. »Was meinst du damit, Christian?«
    Es war schnell erklärt. Ich war damals zehn und wegen irgendwas sauer gewesen, so stinksauer, dass ich Tante Jeans schlimmste Ängste angezapft und zu Papier gebracht hatte. Nur hatten sich ihre Ängste auf die Zukunft bezogen und nicht auf die Vergangenheit.
    Ich hatte in allen Einzelheiten dargestellt, wie es war, wenn man bei vollem Bewusstsein in einem Auto saß, das in einem eiskalten See versank. Ich hatte Tante Jean keine gnädige Ohnmacht gegönnt, nein, in meiner kindischen Wut hatte ich dafür gesorgt, dass sie alles mitbekam: Wie ihr das Wasser erst bis an die Brust und dann bis an den Hals stieg und schließlich über ihrer Nase zusammenschlug. Wiees sich anfühlte, wenn es in den Lungen stach und man panisch hustete und würgte, bis man schließlich die letzten Atemzüge als silbrig glitzernde Blasen ausstieß, die wie stumme Schreie an die Oberfläche stiegen.
    Schon die Erinnerung daran tat mir weh. Sie in Worte zu fassen, war noch schmerzhafter.
    Danach war es lange Zeit still, so still, dass es wie Donner in meinen Ohren dröhnte, als ich schlucken musste. Ich gab mir einen Ruck und schaute Onkel Hank an.
    Ich erkannte ihn kaum wieder. In seinem Blick lag ein solches Entsetzen, dass er offenbar nicht mal weinen konnte. Sein Gesicht war eine wächserne Maske.
    »Onkel Hank …«
    Er schob wortlos seinen Stuhl zurück und ging hinaus. Er drehte sich nicht noch einmal um. Die Küchentür schlug zu, dann hörte man den Wagen anspringen. Er fuhr rückwärts aus der Einfahrt und brauste davon.
    Dr. Rainier machte als Erste wieder den Mund auf. »Lass ihm Zeit, Christian.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Das verzeiht er mir nie! Es wird nie mehr so sein wie vorher.«
    Ich brach in Tränen aus. Sie versuchte nicht, mich zu beruhigen. Als ich vom Heulen Schluckauf bekam, ging sie zur Spüle, befeuchtete ein Papiertuch mit kaltem Wasser und brachte es mir zusammen mit einem trockenen Handtuch, damit ich mir das Gesicht abwischen konnte. »Hör mal zu, Christian! Seit der Nacht, in der du die Scheune angesprüht hast, ist sowieso nichts mehr wie vorher. Nichts bleibt, wie es ist, so ist das im Leben. Du bist siebzehn, Christian. Dein Leben fängt gerade erst an. Mach was draus! Du kannst nichtewig warten – tu’s jetzt! « Sie sah mich eindringlich an. »Ich glaube, das ist es, was dir dein Traum eigentlich sagen will: Warte nicht zu lange, sonst ist es irgendwann zu spät. In fast allen Religionen gibt es die Vorstellung, dass die Seele nach dem Tod noch kurze Zeit im Diesseits verweilt. Das dürfte im Judentum nicht anders sein.« Als ich sie verwundert ansah, zuckte sie nur die Achseln. »Aberglaube hat oft einen wahren Kern. Ich behaupte nicht, dass ich das alles verstehe, und mein Studium nützt mir dabei herzlich wenig, aber ich glaube dir und bin bereit, dich zu begleiten. Schließlich kennst du jetzt meinen ganz persönlichen Alptraum. Also, du kannst dich auf mich verlassen.«
    »Und wenn nun Gott dahintersteckt?« Ich putzte mir die Nase. »Wenn ich ein Bote bin, der einen Auftrag zu erfüllen hat oder so?«
    »Dann hältst du dich besser ran!«, sagte sie.

XXIX
    Dr. Rainier fuhr. Es war wieder kalt geworden, und der Himmel war sternenklar. Der Mond ließ sich nicht blicken. Als wir die letzten Häuser hinter uns gelassen hatten, sah der Himmel aus, als hätte jemand eine Schüssel Diamanten über der Erde ausgekippt. Das Städtchen Winter war ein mattgrauer Fleck am Horizont.
    »Darf ich Sie mal was fragen?«
    Der Schein der Armaturen färbte Dr. Rainiers Gesicht und Hände flaschengrün. Sie wandte den Blick nicht

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