Der Zeichner der Finsternis
von der Straße. »Kann ich die Frage denn beantworten?«
»Vielleicht. Doch, eigentlich schon … wenn Sie wollen.«
»Nämlich?«
»Wünschen Sie sich manchmal, dass Sie ihn umgebracht hätten?«
Die Frage hing eine ganze Weile in der Luft, und ich kam mir schon albern vor, aber schließlich antwortete sie: »Jahrelang habe ich mir gewünscht, dass ich damals älter und stärker gewesen wäre. Ich habe mir sozusagen gewünscht, ich wäre du – so wie in deinem Traum. Vielleicht hast du das ja gespürt, denn wenn ich mir das wünsche, bin ich immer auch schrecklich wütend.«
Ich hätte sie gern gefragt, weshalb ich eigentlich dermaßenauf Wut und Tod ansprang, ließ es aber bleiben. Heute glaube ich, dass ich die Antwort gar nicht wissen wollte. Wozu auch?
»Er hat vierzig Jahre bekommen, für heimtückischen Mord. Wenn ich mir das heute überlege, finde ich vierzig Jahre in einer Einzelzelle fast so schlimm wie die Todesstrafe – womöglich schlimmer, denn wenn so jemand irgendwann rauskommt, ist sein Leben praktisch vorbei.«
»Dann sitzt er also immer noch im Knast?«
»Ja. Und nein, ich habe ihn nie besucht. Wir haben nicht mal mehr denselben Nachnamen. Rainier ist der Mädchenname meiner Mutter. Aber das hast du eigentlich gar nicht gefragt, stimmt’s? Ich denke möglichst wenig darüber nach, weil ich es sowieso nicht mehr ändern kann. Damals war ich ein kleines Mädchen. Wie hätte ich meiner Mutter beistehen sollen – wie hätte ich mich selbst wehren sollen?«
»Sind Sie deswegen Psychiaterin geworden?«, entfuhr es mir. »’tschuldigen Sie, das war jetzt blöd.«
»Kein Problem.« Sie warf mir einen kurzen Blick zu, dann schaute sie wieder geradeaus. So weit draußen gab es keine Straßenlaternen mehr. Man hatte den Eindruck, als folgten wir dem Scheinwerferlicht geradewegs über den Rand einer Klippe – was vielleicht gar nicht so verkehrt war. »Darüber habe ich oft und lange nachgedacht. Spontan würde ich antworten: ›logisch‹. Ich möchte verstehen können, wie meine Mutter so einen Mann lieben konnte. Wie ein kleines Mädchen ein solches Ungeheuer als seinen Vater betrachten konnte, denn das war er einmal – davor. Er hat zu trinken angefangen, als die beiden schon eine Weile verheiratet waren. Und er hat bestimmt versucht, es in den Griff zu bekommen.Er war übrigens Arzt, Chirurg. Nicht zu fassen, was? Seine Patienten haben ihn vergöttert. Im OP hat er sich anscheinend zusammengerissen. Aber eigentlich habe ich keine Ahnung, wie es so weit gekommen ist. Oder ich will es gar nicht wissen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht möchte, dass er der wichtigste Mensch in meinem Leben ist. Das hat er einfach nicht verdient. Das klingt jetzt vielleicht widersprüchlich, denn wir Psychiater wollen ja eigentlich immer alles ganz genau wissen – ich habe mich trotzdem dagegen entschieden. Natürlich ist er für meine Vergangenheit eine wichtige Figur, sonst hättest du wohl nicht von ihm geträumt. Aber er ist nur ein Aspekt von vielen und ich habe keine Lust, mich immer nur im Kreis zu drehen. Man muss auch mal loslassen, sonst lähmt einen die Vergangenheit, so einfach ist das.«
Ich dachte an David Witek. Als er noch bei Verstand war, hatten sich seine Gedanken vielleicht nicht immerzu um das grauenhafte Erlebnis in der Scheune gedreht. Doch in seiner Verwirrung und kurz vor seinem Tod kreisten seine Gedanken darum wie unglückselige Satelliten.
»Ich habe Angst, meine Mom loszulassen«, sagte ich leise. »Aber nicht nur, weil ich von ihr … na ja, irgendwie besessen bin. Sie wissen ja inzwischen, wozu ich fähig bin. Sie haben die Wände in meinem Zimmer gesehen.«
»Allerdings. Kannst du dir eigentlich erklären, warum die gemalte Tür keine Klinke hat?«
Und ob ich das konnte. »Was vermuten Sie?«
»Meine schlechten Angewohnheiten färben allmählich auf dich ab.« Sie lächelte flüchtig. »Angst ist etwas ganz Normalesund Gesundes, Christian. Du lässt deine Mutter nicht im Stich, nur weil du die Tür nicht öffnest.«
»Das hört sich an, als ob Sie glauben, dass hinter der Tür tatsächlich etwas ist.«
Sie erwiderte belustigt: »Herrje, Christian, seit ich dich kenne, ist schon so viel passiert, was ich nicht richtig begreife … Also, wie verhält es sich nun mit der Tür? Glaubst du, deine Mutter wartet dahinter auf dich, oder … führt die Tür in ein unbekanntes Land oder so etwas?«
»Ich … Ach, keine Ahnung. Ich versuche mir immer vorzustellen, wo meine
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