Der Zeichner der Finsternis
ging mir durch den Kopf.
Ich machte kehrt und lief ans Nordende der Scheune. Meine Haut kribbelte und piekte inzwischen wie von einem ganzen Ameisenschwarm. Ich schwenkte die Taschenlampe hin und her, entdeckte aber nur noch mehr leere Pferdeboxen. Schließlich ging ich wieder zurück, bis ich ein Stück rechts der Mitte stand. Dort richtete ich meine Taschenlampe senkrecht nach oben.
»Wonach suchst du?«, fragte Dr. Rainier.
»David hat vom Heuboden aus zugeschaut. Ich erinnere mich an die Treppe … da!« Der Lichtkegel ruhte auf einer Stelle, wo die Deckenbretter besonders breite Lücken hatten. »Da oben ist es.«
Von dort aus hatte David seinen Vater, Mr Eisenmann und Walter Brotz beobachtet. Hier unten hatte sich Mordechai Witek auf seinen Arbeitgeber gestürzt, sich eine Heugabel gegriffen und …
In meinem Kopf fing es zu summen an. Er wurde wieder ganz leicht und leer. Ich wusste, dass es so weit war.
Schnell!
Ich knipste die Taschenlampe aus, steckte sie in meinen Rucksack und holte die Stifteschachtel und den Block heraus, die ich von zu Hause mitgenommen hatte. Mordechai Witeks Pinsel hatte ich in der Hosentasche. Ich wollte nicht damit malen, aber ich wollte die Pinsel bei mir haben.
»Und jetzt?« Dr. Rainier klang ein bisschen ängstlich. »Was passiert jetzt?«
»Keine Ahnung.« Wie konnte ich malen, was David entweder gar nicht gesehen oder mit aller Macht verdrängt hatte? Oder war ich einfach als stummer Zeuge hier? Anders als in dem Alptraum von Dr. Rainiers Vater konnte ich diesmal nicht eingreifen. Es war eher wie mit Tante Jeans und Miss Stefancyzks Ängsten und Schreckensbildern. Ich konnte mich hineinversetzen, zuschauen und alles festhalten.
Konnte ich Davids Stelle einnehmen?
Probieren geht über Studieren, dachte ich. Fang einfach an!
Hastig nahm ich irgendeinen Stift aus der Schachtel. Meine Finger zuckten und kribbelten, dann fiel ich. Die Dunkelheit verschluckte mich und
XXX
Oben auf dem Heuboden ist es staubig. Die kalte Luft sticht mir in die Nase. Licht sickert durch die Lücken und Spalten im Bretterboden. Aus der Treppenöffnung dringt eine grelle Lichtbahn. David kauert neben mir. Er reißt die braunen Augen angstvoll auf, sein Gesicht ist weiß wie ein Laken. Sieht er mich? Spürt er, dass ich da bin? Wohl kaum. Streng genommen bin ich gar nicht da, und auch David selbst existiert hier und jetzt nur in meiner Vorstellung.
Aufgebrachte Stimmen dringen zu uns herauf, und ich schleiche mich zur Treppe. Erstaunlicherweise knarren die Bretter nicht. Auch David merkt nichts. Ich werfe einen Blick über die Schulter. David hat sich nicht vom Fleck gerührt. Starr vor Angst kauert er reglos da wie eine Maus, die hofft, dass die Katze sie übersieht.
Als ich die Treppe heruntergehe, rieche ich den Schweiß der Pferde, den würzigen Duft ihres Futters und frisch umgegrabene Erde. An der Nordwand der Scheune ist der Boden auf einer drei Meter breiten Fläche noch nicht fertig verlegt. In einer Ecke sind Ziegelsteine gestapelt, dazwischen stehen Zementsäcke.
Vor den beiden Boxen neben der Treppe liegt ein hoher Heuhaufen. Der lange Stiel einer Heugabel ragt heraus.
Die Stufen sind abgetreten und glatt. Ich rutsche aus, und mir schießt durch den Kopf: Mist, jetzt sehen sie mich! Aber das ist ausgeschlossen. Die drei Männer – Charles Eisenmann, Mordechai Witek und der dritte, Walter Brotz – können durch mich hindurchsehen, ja, sogar hindurch gehen .
Ich bin ein Geist in einer Welt voller Phantome und Alptraumbilder.
»Du warst schon seit dem Bild mit dem Sonnenuntergang scharf auf sie, stimmt’s?«, sagt Charles Eisenmann. Er steht im schwefligen Licht der nackten Glühbirnen. Heute Abend trägt er einen sorgfältig gebügelten dunklen Anzug, und wenn er gestikuliert, blitzt der dicke goldene Siegelring an seinem kleinen Finger. Er hakt die Daumen in die Weste, die goldene Uhrkette funkelt. »Was bist du doch für ein braver Ehemann, ein Mann mit Grundsätzen … Kein Wunder, dass du sofort zugegriffen hast, als ich dir einen Arbeitsplatz in Winter angeboten habe. Du wolltest dringend aus Milwaukee weg, gib’s zu! Was mag in dir vorgegangen sein, als sie hier auftauchte und du hören musstest, dass sie verlobt ist? Wenn hier jemand der Geschädigte ist, dann ja wohl ich!«
Im Gegensatz zu Eisenmann wirkt Mordechai Witek in seiner derben Arbeitshose und dem kragenlosen weißen Hemd klein und unscheinbar. Aber seine Augen funkeln empört, und er hat rote Flecken
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