Der Zeichner der Finsternis
unter anderem Mordechai Witek selbst. Wer die drei anderen waren, konnte ich mir denken, auch wenn sie kaum noch zu erkennen waren. Ich hatte sie sogar schon mal gesehen – auf dem Familienporträt in Mr Witeks Zimmer. Als ich Marta betrachtete, ging mir noch ein anderes Licht auf.
»Damit kann das Labor bestimmt etwas anfangen.« Dr. Nichols steckte das Foto behutsam in einen Plastikbeutel. »Aber das hier ist noch besser.« Sie hielt eine Pappkarte in die Höhe.
Die Karte war früher rosa gewesen. Auf einer Seite prangte ein schwarzes Siegel, das eine lange Brücke vor hohen Bergen zeigte. Darunter stand: IVEBK. Auf der Rückseite war zu lesen:
MITGLIEDSAUSWEIS
Mr M. M. WITEK
ist vollberechtigtes Mitglied der
Internationalen Vereinigung der Eisenkonstrukteure, Brückenbauer und Kunstschmiede
in WINTER, WISCONSIN
Bezirk Nr. 119
Dieser Ausweis ist gültig bis: 31.12.1945
Onkel Hank sagte ungläubig staunend: »Das heißt, er ist nie von hier weggegangen!«
»Scheint so. Wir führen natürlich noch einen Gentest durch und vergleichen das Ergebnis mit einer Probe von seinem Sohn«, sagte Dr. Nichols. »Mr Witeks Nachlassverwalter hat bestimmt nichts dagegen. Aber auch ohne Befund würde ich mal behaupten, dass der Tote hiermit identifiziert ist.«
Das andere Skelett machte es ihr nicht so leicht. Das Nasenbein war beschädigt; das war die einzige Knochenverletzung, die Dr. Nichols auf die Schnelle feststellen konnte. Diesmal fand sie keine Brieftasche. Sie hielt den Toten für einen Landarbeiter. »Wegen der Kleidung. Sein Hemd ist aus derbem Stoff, und hier am Ärmel ist eine Aufschrift. Leider so verblichen, dass ich nichts lesen kann. Aber vielleicht kann man die Stelle im Labor noch säubern. Genauso gut kann es aber sein, dass wir nicht herausfinden, um wen es sich handelt.«
Ich wusste sehr genau, um wen es sich handelte. Ich hatte gesehen und gezeichnet, was die beiden Deutschen, Wulf und Daecher, nicht gesehen hatten, denn wenn man jemandem die Kehle durchschneidet, ist das eine ziemlich blutige Angelegenheit. Vor allem, wenn der Betreffende dabei noch lebt. Und Blut verdeckt so manches.
»Wenn Sie den linken kleinen Finger finden, könnte uns das weiterhelfen«, sagte ich.
Dr. Nichols siebte zehn Minuten lang sorgfältig eine Kelle Erde nach der anderen durch, dann rief Dr. Rainier aus: »Halt! Da ist was!«
Dr. Nichols’ hielt erst einen Knochen in die Höhe – »Metakarpalknochen«sagte sie dazu –, dann einen goldenen Siegelring mit drei verschnörkelten Buchstaben drauf.
»C-R-E«, sagte ich, »Charles Randall Eisenmann.«
»Ausgeschlossen!« Onkel Hank schaute erst den Ring an, dann mich und schließlich Dr. Rainier. »Das ist ganz ausgeschlossen«, wiederholte er. »Charles Eisenmann lebt doch noch!«
»Wo kommt der Ring dann her? Auf allen alten Fotos von Eisenmann sieht man ihn mit diesem Ring. Und mit der goldenen Uhrkette – die trägt er immer noch. Aber wenn man ein Foto von 1944 mit einem von 1946 vergleicht, ist der Ring 1946 verschwunden, wetten? Und zwar deshalb, weil ihn der echte Charles Eisenmann am Finger hatte, als er starb, und der Typ, der seine Stelle eingenommen hat, vergessen hat, ihm den Ring abzunehmen. Er hat die Kleidung mit ihm getauscht und die Uhrkette an sich genommen, aber nicht den Ring.«
Onkel Hank war noch nicht überzeugt. »Aber sein Mörder war doch nicht sein Doppelgänger. Wieso sind alle Leute darauf hereingefallen?«
»Wegen der Narben. Angeblich wurde Eisenmann bei dem Mord ebenfalls angegriffen und verletzt, stimmt’s? Kann doch aber auch sein, dass sich der Typ die Narben selbst zugefügt hat, mit ein bisschen Hilfe!«
»Das wäre immerhin denkbar«, warf Dr. Nichols ein. Vor allem, wenn es sehr schwere Verletzungen waren und der Betreffende auch noch die gleiche Kleidung und die gleiche Uhr getragen hat. Dann genügt eine oberflächliche Ähnlichkeit, um Außenstehende zu täuschen.«
Onkel Hank blieb skeptisch. »Also ich weiß nicht …«
Ich wandte mich an Dr. Rainier. »Sie haben doch die beiden Männer auf meinen Skizzen erkannt, oder?« Sie nickte. »Kommen Sie irgendwie an Mr Witeks Skizzenbuch ran?«
»Das Heim verwahrt seine Besitztümer. Aber wenn Sie mir eine entsprechende Befugnis ausstellen, Hank … Die Indizienbeweise hier reichen doch bestimmt aus, um das zu begründen.«
»Klar. Aber wozu? Wen suchen wir eigentlich?«
»Den Zwilling.« Ich blätterte in meinen Zeichnungen und hielt Onkel Hank die Skizze mit dem
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