Der Zeitdieb
ja. Mit Glöckchen und singenden Vögeln drauf. Aber es könnte stimmen. Ich weiß immer, wo ich sein sollte. Und wo solltest du jetzt sein?«
»Einen Augenblick«, sagte Lobsang. »Wer bist du? Die Zeit hat angehalten. Die Welt gehört… Gestalten aus Märchen und Ungeheuern. Und durch diese Welt spaziert eine Lehrerin ?«
»Eine bessere Person kann man sich kaum wünschen«, erwiderte Susanne. »Lehrer mögen keine Albernheiten. Wie ich schon sagte: Ich habe gewisse Talente geerbt.«
»Zum Beispiel die Fähigkeit, außerhalb der Zeit zu leben?«
»Ja.«
»Für eine Lehrerin ist das eine sehr seltsame Eigenschaft!«
»Sie hilft bei der Korrektur und Benotung«, sagte Susanne ruhig.
»Bist du wirklich ein Mensch?«
»Ha! Ich bin so menschlich wie du. Was allerdings nicht ausschließt, dass sich im Keller der Familie die eine oder andere Leiche verbirgt.«
Sie verlieh diesen Worten eine sonderbare Betonung…
»Das war nicht nur so dahingesagt«, vermutete Lobsang.
»Nein«, bestätigte Susanne. »Das Ding auf deinem Rücken. Was passiert, wenn es sich nicht mehr dreht?«
»Dann habe ich keine Zeit mehr.«
»Ah. Dann spielt es vermutlich kaum eine Rolle, dass es angehalten hat, als der Revisor das Experiment mit der Axt durchführte.«
»Der Zauderer dreht sich nicht mehr?« Der erschrockene Lobsang griff nach seinem Rücken, wodurch er sich selbst drehte.
»Offenbar hast du ein verborgenes Talent«, sagte Susanne, lehnte sich an die Wand und lächelte.
»Bitte! Zieh mich auf!«
»Na schön. Du bist…«
»Beim ersten Mal war es nicht komisch!«
»Schon gut. Ich habe ohnehin keinen Sinn für Humor.«
Sie griff nach seinen Armen, als er an den Gurten zerrte.
»Du brauchst das Ding nicht, verstehst du?«, sagte sie. »Es ist nur Ballast! Vertrau mir! Gib nicht nach! Du erzeugst deine eigene Zeit. Frag nicht nach dem Wie.«
Lobsang richtete einen bestürzten Blick auf Susanne. »Was geschieht hier?«
»Es ist alles in Ordnung, es ist alles in Ordnung «, sagte Susanne so geduldig wie möglich. »Solche Dinge verursachen immer einen Schock. Als es mit mir passierte, war niemand da. Du kannst dich also glücklich schätzen.«
»Was passierte mit dir?«
»Ich fand heraus, wer mein Großvater ist. Nein, bitte frag nicht. Konzentrier dich jetzt. Wo solltest du sein?«
»Äh…« Lobsang sah sich um. »Äh… dort drüben, glaube ich.«
»Es käme mir nie in den Sinn zu fragen, woher du das weißt. Außerdem bekommen wir dadurch Gelegenheit, uns von der Menge auf dem Platz zu entfernen.«
Susanne lächelte. »Sieh die Sache einmal von der positiven Seite«, fügte sie hinzu. »Wir sind jung. Wir haben alle Zeit der Welt…« Sie schwang sich den Schraubenschlüssel auf die Schulter. »Hauen wir ordentlich auf den Putz.«
Wenn es so etwas wie Zeit gegeben hätte, wären nach Susannes und Lobsangs Aufenthalt in der Werkstatt einige Minuten vergangen. Dann trat eine etwa fünfzehn Zentimeter große und in einen schwarzen Kapuzenmantel gekleidete Gestalt ein, gefolgt von einem Raben, der sich auf die Tür hockte und sehr argwöhnisch zur glühenden Uhr sah.
»Sieht gefährlich aus, finde ich«, sagte er.
QUIEK?, erwiderte der Rattentod und näherte sich der Uhr.
»Nein, du solltest besser nicht versuchen, ein Held zu sein«, erwiderte Sprach.
Die Ratte trat zum Sockel der Uhr und blickte mit einem Je-größer-sie-sind-desto-schwerer-fallen-sie-Ausdruck an ihr empor, bevor sie mit der Sense zuschlug.
Sie versuchte zumindest, mit der Sense zuzuschlagen. Es blitzte, als die Klinge die Uhr berührte. Für einen Moment war der Rattentod ein ringförmiger, schwarzweißer Schemen, der die Uhr umgab, dann verschwand er.
»Ich hab dich gewarnt«, sagte der Rabe und putzte sein Gefieder. »Ich schätze, jetzt kommst du dir ziemlich dumm vor.«
»…und dann dachte ich, welcher Job erfordert jemanden mit meinen Talenten«, sagte Ronnie. »Für mich ist Zeit eine weitere Richtung. Und dann dachte ich: Alle möchten frische Milch. Und alle möchten, dass sie früh am Morgen geliefert wird.«
»Immer noch besser als Fensterputzen«, erwiderte Lu-Tze.
»Damit habe ich erst nach der Erfindung des Fensters begonnen«, meinte Ronnie. »Vorher bin ich hier und dort als Gärtner tätig gewesen. Noch etwas ranzige Yak-Butter gefällig?«
»Ja, bitte.« Lu-Tze hob seine Tasse.
Er war achthundert Jahre alt, deshalb gestattete er sich eine Rast. Ein Held wäre sofort aufgebrochen, durch die stille Stadt
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