Der Zeitdieb
handelte sich ganz offensichtlich um etwas, das Menschen zu Menschen machte, und deshalb ließen sich die Revisoren darauf ein, um mehr herauszufinden. Eigentlich blieb ihnen auch gar keine Wahl. Verschiedene Gefühle entstanden in ihnen, wenn sie Befehle von einem Mann entgegennahmen, der über eine Waffe mit scharfer Klinge verfügte. Erstaunlicherweise wich das Drängen, mit den anderen Revisoren zu diskutieren, sofort dem brennenden Wunsch, das zu tun, was die Waffe verlangte.
»Kannst du ihn nicht dazu bringen, deine Hand loszulassen?«
»Er scheint bewusstlos zu sein, Herr Weiß. Seine Augen sind blutunterlaufen. Er gibt leise, seufzende Geräusche von sich. Doch der Körper scheint entschlossen zu sein, sich das Brot nicht wegnehmen zu lassen. Darf ich noch einmal auf die Sache mit dem unerträglichen Schmerz hinweisen?«
Herr Weiß winkte zwei andere Revisoren herbei. Mit beträchtlicher Mühe gelang es ihnen, Herrn Dunkelavocados Finger aus dem Griff zu lösen.
»Darüber müssen wir mehr erfahren«, sagte Herr Weiß. »Der Renegat sprach davon. Herr Dunkelavocado?«
»Ja, Herr Weiß?«
»Empfindest du noch immer Schmerz?«
»Meine Hand fühlt sich jetzt sowohl heiß als auch kalt an, Herr Weiß.«
»Seltsam«, sagte Herr Weiß. »Wir sollten das Phänomen namens Schmerz gründlicher untersuchen.« Herr Dunkelavocado hörte, wie eine kleine Stimme in einem Winkel seines Selbst bei dieser Vorstellung erschrocken aufschrie, während Herr Weiß fortfuhr: »Welche anderen Nahrungsmittel gibt es?«
»Wir kennen die Namen von dreitausendsiebenhundertundneunzehn«, sagte Herr Indigo-Violett und trat vor. Er galt inzwischen als Experte auf diesem Gebiet, und auch das war neu für die Revisoren. Es hatte nie zuvor Experten für etwas gegeben. Was einer wusste, wussten alle. Etwas zu wissen, das für die anderen unbekannt blieb, gab einem etwas Individuelles, und Individuen konnten sterben. Aber man bekam dadurch auch Macht und Bedeutung, wodurch man vielleicht nicht so leicht starb. Es war sehr schwer, mit so etwas zurechtzukommen, und wie einige andere Revisoren hatte Herr Indigo-Violett bereits nervöse Zuckungen im Gesicht bekommen.
»Nenn mir einen«, sagte Herr Weiß.
»Käse«, antwortete Herr Indigo-Violett sofort. »Das ist eine verfaulte, vom Rind stammende Milchabsonderung.«
»Wir werden uns Käse besorgen«, verkündete Herr Weiß.
Drei Revisoren gingen vorbei.
Susanne spähte aus dem Hauseingang. »Bist du sicher, dass wir in der richtigen Richtung unterwegs sind?«, fragte sie. »Wir verlassen die Stadtmitte.«
»Dies ist der Weg, den ich nehmen sollte«, erwiderte Lobsang.
»Na schön. Aber diese schmalen Straßen gefallen mir nicht. Es gefällt mir nicht, mich zu verstecken. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich vor irgendetwas verbergen.«
»Ja, das habe ich bemerkt.«
»Was ist das dort drüben?«
»Die Rückseite des Königlichen Kunstmuseums«, sagte Lobsang. »Auf der anderen Seite erstreckt sich der Breite Weg. Dort liegt unser Ziel.«
»Für jemanden, der aus den Bergen kommt, kennst du dich hier gut aus.«
»Ich bin hier aufgewachsen. Und ich bin Dieb gewesen – mir sind fünf verschiedene Möglichkeiten bekannt, ins Museum einzubrechen.«
»Ich konnte früher durch Wände gehen«, meinte Susanne. »Seit die Zeit angehalten hat, bin ich nicht mehr dazu imstande. Die Fähigkeit wird irgendwie blockiert.«
»Du konntest wirklich durch eine feste Wand gehen?«
»Ja. Es ist eine Familientradition«, erwiderte Susanne scharf. »Komm, begeben wir uns ins Museum. Selbst in normalen Zeiten hält sich dort kaum jemand auf.«
Schon seit Jahrhunderten gab es keinen König mehr in Ankh-Morpork, doch Paläste überlebten irgendwie. Eine Stadt braucht vielleicht keinen König, aber mit großen Zimmern und guten hohen Mauern kann sie immer etwas anfangen, auch wenn die Monarchie nur noch eine Erinnerung ist und man das Gebäude ›Glorreiches Denkmal für die Industrie desVolkes‹ nennt.
Zwar gab es vom letzten König der Stadt kein Ölgemälde – nach der Enthauptung sieht niemand gut aus, nicht einmal ein kleiner König –, aber er hatte ziemlich viele Kunstwerke angesammelt. Selbst die gewöhnlichen Leute von Ankh-Morpork zeigten Interesse an Werken wie Caravatis Drei große rosarote Frauen und ein Stück Gaze oder Mauvaises Mann mit großem Feigenblatt. In einer Stadt mit einer so langen Geschichte wie Ankh-Morpork häufte sich im Lauf der Zeit außerdem
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