Der Zeitdieb
geben keine Milch«, sagte Lu-Tze und griff nach der größten Schöpfkelle. Sie verursachte nicht das geringste Geräusch, als sie sich vom Haken löste.
»Ich habe nicht behauptet, dass es leicht gewesen ist.«
Der Kehrer hob die Schöpfkelle. »Was ist dies für ein Ort, Freund?«, fragte er.
»Du bist in der… Molkerei.«
Der Mann sprach das letzte Wort so aus, als wäre es ebenso bedeutungsvoll wie »Schloss des Schreckens«. Er stellte eine weitere Flasche aufs Abtropfbrett und kehrte Lu-Tze nach wie vor den Rücken zu, als er die Hand hob. Alle Finger waren gekrümmt, bis auf den gestreckten Mittelfinger.
»Weißt du, was das bedeutet, Mönch?«, fragte er.
»Es ist keine freundliche Geste, Freund.« Die Schöpfkelle fühlte sich gut und schwer an. Lu-Tze hatte weitaus schlechtere Waffen eingesetzt.
»Oh, eine oberflächliche Interpretation. Du bist alt, Mönch. Ich sehe die Jahrhunderte an dir. Sag mir, was dies bedeutet und wer ich bin.«
Die Kühle in der Molkerei wurde noch ein wenig kühler.
»Es ist dein Mittelfinger«, sagte Lu-Tze.
»Pah!«, erwiderte der Mann.
»Pah?«
»Ja, pah! Du hast ein Gehirn. Benutze es.«
»Nun, ich bin dir dankbar dafür, dass du…«
»Du kennst die geheimen Weisheiten, nach denen alle suchen, Mönch.« Der Mann zögerte kurz. »Oh, ich schätze, du kennst auch die offenen Weisheiten, die jeder sehen kann und denen fast niemand Beachtung schenkt. Wer bin ich?«
Lu-Tze starrte auf den einzelnen Finger. Die Wände der Molkerei verblassten, und aus der Kühle wurde eisige Kälte.
Seine Gedanken rasten, und der Bibliothekar des Gedächtnisses übernahm die Kontrolle.
Er befand sich nicht an einem normalen Ort, und er hatte es nicht mit einem normalen Mann zu tun. Ein Finger. Ein Finger. Einer von fünf Fingern an der Hand… Einer von Fünf. Einer von Fünf. Vage Echos einer uralten Legende flüsterten in Lu-Tze und weckten seine Aufmerksamkeit.
Fünf minus eins macht vier.
Einer, der übrig blieb.
Vorsichtig hängte Lu-Tze die Schöpfkelle wieder an den Haken.
»Einer von Fünf«, sagte er. »Der Fünfte von Vier.«
»Na bitte. Ich habe dich gleich für gebildet gehalten.«
»Du… bist gegangen, bevor die anderen berühmt wurden.«
»Ja.«
»Aber… Dies ist eine Molkerei, und du wäschst Flaschen!«
»Na und? Ich musste etwas mit meiner Zeit anfangen.«
»Aber… Du warst der fünfte Reiter der Apokalypse!«
»Und ich wette, du erinnerst dich nicht an meinen Namen.«
Lu-Tze zögerte. »Nein«, sagte er. »Ich glaube, ich habe ihn nie gehört.«
Der Fünfte Reiter drehte sich um. Seine Augen waren schwarz. Völlig schwarz. Glänzend und schwarz und ohne Weiß.
»Mein Name lautet…«, begann der Fünfte Reiter.
»Ja?«
»Ronnie.«
Die Zeitlosigkeit wuchs wie Eis. Die Wellen des Meeres erstarrten. Vögel hingen in der Luft fest. Die Welt kam zur Ruhe.
Aber es wurde nicht völlig still. Ein Geräusch erklang, wie von einem Finger, der langsam über den Rand eines sehr großen Glases streicht.
» Komm «, drängte Susanne.
»Hörst du das nicht?«, fragte Lobsang und blieb stehen.
»Es nützt uns nichts…«
Sie schob Lobsang in die Schatten zurück. Auf halbem Weg die Straße hinunter erschien die graue Kutte eines Revisors über dem Pflaster und begann sich zu drehen. Die Luft in unmittelbarer Nähe füllte sich mit Staub, verdichtete sich zu einem schnell rotierenden Zylinder und wurde zu etwas, das nach einem Menschen aussah.
Einige Sekunden schwankte die Gestalt und rang um ihr Gleichgewicht. Langsam hob sie die Hände und betrachtete sie, drehte sie hin und her. Dann ging sie zielstrebig los. Nach einigen Metern begegneten sie einer weiteren Gestalt, die aus einer Gasse kam.
»Das ist ganz und gar nicht typisch für sie«, sagte Susanne, als das Paar hinter einer Ecke verschwand. »Sie haben etwas vor. Komm, wir folgen ihnen.«
»Was ist mit Lu-Tze?«
»Was soll schon mit ihm sein? Wie alt ist er?«
»Achthundert, nach eigenen Angaben.«
»Was bedeutet: Er ist schwer zu töten. Bei Ronnie dürfte er gut aufgehoben sein, solange er aufpasst und nicht widerspricht. Komm jetzt.«
Sie eilten über die Straße.
Weitere Revisoren erschienen, schritten an den erstarrten Karren und reglosen Passanten vorbei. Wie sich herausstellte, waren sie zum Hiergibt’salles-Platz unterwegs, einem der größten Plätze in der Stadt. Es war Markttag. Stumme, bewegungslose Leute standen an den Verkaufsbuden, und zwischen ihnen huschten graue
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