Der Zeitdieb
richtigen Worten.
»Hat sich jemand über mich beschwert?«, fragte Fräulein Susanne.
»Äh, nein… äh… Allerdings hat Fräulein Schmitt darauf hingewiesen, dass die Kinder deiner Klasse, äh, unruhig sind. Unglücklicherweise können sie recht gut lesen…«
»Frau Schmitt glaubt, in einem guten Buch geht es um einen Jungen und seinen Hund, die einem roten Ball nachlaufen«, sagte Fräulein Susanne. »Meine Schüler haben gelernt, eine Handlung zu erwarten. Kein Wunder, dass sie unruhig werden. Wir lesen gerade die Grimmigen Märchen. «
»Das ist sehr unhöflich von dir, Susanne.«
»Ganz im Gegenteil, Madame. Es ist sehr freundlich von mir. Unhöflich wäre ich gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass ein Teil der Hölle für Lehrerinnen wie Frau Schmitt reserviert ist.«
»Aber das ist ein schreckl…« Madame Frout unterbrach sich und begann noch einmal. »Du hättest ihnen das Lesen noch gar nicht beibringen sollen!«, sagte sie, und versuchte ohne großen Erfolg, scharf zu sprechen – ihre Stimme blieb stumpf. Sie schauderte unwillkürlich, als Fräulein Susanne zu ihr aufsah. Die junge Frau war dazu fähig, einem ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Man musste eine gefestigtere Person sein als Madame Frout, um die Intensität ihrer Aufmerksamkeit zu überleben. Sie inspizierte die Seele und malte rote Kringel um die Teile, die ihr nicht gefielen. Wenn Fräulein Susanne jemanden ansah, so schien sie Noten zu verteilen.
»Ich meine«, murmelte die Rektorin, »die Kindheit ist eine Zeit zum Spielen und…«
»Und zum Lernen«, sagte Fräulein Susanne.
»Zum Lernen durch Spielen «, betonte Madame Frout und war froh, dass sie wieder vertrautes Terrain erreicht hatte. »Denk nur an Kätzchen und Hündchen…«
»… die zu Katzen und Hunden werden, was sie noch uninteressanter macht«, sagte Fräulein Susanne. »Kinder hingegen sollten zu Erwachsenen heranwachsen.«
Madame Frout seufzte. Ganz gleich, auf welche Weise sie sich bemühte – sie kam einfach nicht weiter. So war es immer. Sie begriff, dass sie machtlos war, denn die Sache mit Fräulein Susanne sprach sich immer weiter herum. Besorgte Eltern hatten ihre Hoffnung auf »Lernen durch Spaß« gesetzt, weil »Lernen, indem man auf das hört, was einem gesagt wird« bei ihren Sprösslingen offenbar nicht funktionierte. Jetzt stellten sie fest, dass ihre Kinder ein wenig ruhiger, nachdenklicher und mit vielen Hausaufgaben heimkehrten, die sie erstaunlicherweise erledigten, ohne dass man sie dazu auffordern musste. Und der Hund half ihnen dabei.
Außerdem brachten sie Geschichten über Fräulein Susanne mit.
Fräulein Susanne beherrschte alle Sprachen. Fräulein Susanne wusste alles über alles. Fräulein Susanne hatte wundervolle Ideen für Schulausflüge…
Und das fand Madame Frout besonders seltsam, denn offiziell war kein einziger Ausflug veranstaltet worden, soweit sie wusste. Wenn sie an Fräulein Susannes Klassenzimmer vorbeikam, herrschte dort immer geschäftige Stille. Das ärgerte sie, denn es erinnerte an die schlechte alte Zeit, als Kinder reglementiert wurden, in Klassenzimmern, die Folterkammern für kleine Seelen waren. Andere Lehrer hörten gelegentlich Geräusche, die von Wellen oder einem Dschungel zu stammen schienen. Einmal hätte Madame Frout schwören können, dass hinter der Tür des Klassenzimmers eine Schlacht tobte. Bei »Lernen durch Spaß« geschah so etwas häufiger, aber diesmal waren auch Fanfaren, das Zischen von Pfeilen sowie die Schreie der Verwundeten und Sterbenden dabei. Das ging eindeutig zu weit.
Bei jener Gelegenheit hatte sie die Tür aufgerissen und gespürt, wie etwas über ihren Kopf hinwegflog. Sie erinnerte sich an eine Susanne, die auf ihrem Stuhl saß und aus einem Buch vorlas. Die Schüler saßen im Schneidersitz und bildeten einen stillen, faszinierten Halbkreis um ihre Lehrerin. Es war genau die Art von altmodischem Bild, die Madame Frout verabscheute – die Kinder schienen Bittsteller vor dem Altar des Wissens zu sein.
Niemand hatte ein Wort gesprochen. Das Schweigen der Kinder und von Fräulein Susanne vermittelte eine deutliche Botschaft: Sie warteten darauf, dass die Rektorin wieder ging.
Madame Frout war in den Flur geflohen und hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Dann bemerkte sie den langen, primitiven Pfeil, der in der gegenüberliegenden Wand des Korridors steckte und noch immer zitterte.
Sie hatte noch einmal zur Tür gesehen, die in einem vertrauten Grün
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