Der Zeitdieb
Deckel!«
Herr Weiß näherte sich Lu-Tze mit gehobener Axt. »Es ist
verboten…«, begann er.
»Esst… Oh, meine Güte… Esst… ›eine köstliche Fondant-Zuckercreme, die eine überaus deliziöse und cremige Stachelbeerfüllung enthält und von mysteriöser dunkler Schokolade umgeben ist‹… ihr grauen Mistkerle!«
Ein Regen aus kleinen Objekten prasselte auf die Straße. Mehrere
zerbrachen.
Lu-Tze hörte ein Summen, besser gesagt: eine Stille, geschaffen von
der Abwesenheit eines Summens, an das er sich gewöhnt hatte.
»O nein. Der Zauderer dreht sich nicht me…«
Ronnie Soak betrat seine Molkerei und zog einen Schweif aus Rauch
hinter sich her. Er sah jetzt wieder wie ein Milchmann aus, allerdings wie einer, der gerade Milch in ein brennendes Haus gebracht hatte.
»Für wen hält er sich?«, murmelte er und schloss die Hand so fest um den makellosen Rand eines Tresens, dass Dellen im Metall entstanden. »Ha, o ja, sie schicken einen fort, aber wenn sie möchten, dass man zurückkehrt…«
308
Das Metall unter seinen Fingern begann zu glühen, wurde weiß und
verflüssigte sich.
»Ich habe Kunden. Ich habe Kunden. Leute verlassen sich auf mich. Es mag keine Arbeit sein, die Kunden einbringt, aber die Leute brauchen immer Milch…«
Er hob die Hand zur Stirn. Wo das geschmolzene Metall die Haut
berührte, verdampfte es.
Die Kopfschmerzen waren wirklich schlimm.
Er erinnerte sich an die Zeit, als es nur ihn gegeben hatte. Es fiel ihm nicht leicht, sich daran zu erinnern, denn… Es gab nichts, keine Farben, keine Geräusche, keinen Druck, keine Zeit, keine Bewegung, kein Licht, kein Leben…
Nur Kaos.
Ein Gedanke formte sich: Möchte ich dorthin zurück? Zur perfekten
Ordnung der Unveränderlichkeit?
Weitere Gedanken folgten dem ersten wie kleine silbrige Aale in
seinem Bewusstsein. Er war ein Reiter der Apokalypse, und zwar seit die Bewohner von Lehmhütten auf irgendeiner heißen Ebene vage
Vorstellungen von etwas entwickelten, das vor allem anderen existiert hatte. Und ein Reiter nimmt die Geräusche der Welt wahr. Die Leute in den Lehmhütten und Zelten – ihnen war instinktiv klar geworden, dass die Welt auf gefährliche Weise durch ein komplexes und gleichgültiges Multiversum wirbelte, dass nur die Dicke eines Spiegels das Leben von der Kälte des Alls und den Tiefen der Nacht trennte. Sie wussten: Was sie Realität nannten, das Netz aus Regeln, die das Leben bestimmten, war nichts weiter als eine Schaumblase auf einer Welle. Sie fürchteten den alten Kaos. Aber heute…
Er öffnete die Augen und blickte auf seine dunklen, dampfenden
Hände.
»Wer bin ich jetzt?«, fragte er die Welt im Großen und Ganzen.
Lu-Tze hörte, wie seine Stimme aus dem Nichts kam, erst langsam und
dann schneller: »… mehr…«
»Jetzt ist das Ding wieder aufgezogen«, sagte eine junge Frau vor ihm.
Sie trat zurück und bedachte ihn mit einem kritischen Blick. Zum ersten 309
Mal seit achthundert Jahren hatte Lu-Tze das Gefühl, bei irgendetwas ertappt worden zu sein. Die Frau schien in seinen Kopf zu sehen und
dort herumzukramen.
»Ich nehme an, du bist Lu-Tze«, sagte Susanne. »Ich bin Susanne Sto
Helit. Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Du warst in der
Zeitlosigkeit erstarrt, aber nicht für sehr lange. Wir müssen Lobsang zur gläsernen Uhr bringen. Kannst du uns helfen? Lobsang hält dich ein
bisschen für einen Aufschneider.«
»Nur ein bisschen? Das überrascht mich.« Lu-Tze sah sich um. »Was
ist hier passiert?«
Abgesehen von den überall herumstehenden Statuen war die Straße
leer. Hier und dort lagen bunte Papierfetzen, und an der Mauer hinter dem Kehrer verlief ein langer Streifen, der nach Schokolade aussah.
»Einige sind entkommen«, sagte Susanne und hob etwas auf, von dem
Lu-Tze hoffte, dass es eine große Zuckergussspritze war. »Die meisten von ihnen kämpften gegeneinander. Würdest du versuchen, jemanden wegen einer Praline mit Kaffeecreme zu zerfetzen?«
Lu-Tze sah in die Augen der jungen Frau. Im Lauf von achthundert
Jahren lernte man, einen Eindruck von Personen zu gewinnen. Susanne
war eine Geschichte, die weit zurück reichte. Vermutlich kannte sie sogar die Regel Eins und scherte sich nicht darum. Solchen Leuten begegnete man besser mit Respekt. Andererseits durfte man jemandem wie
Susanne nicht ganz seinen Willen lassen.
»Meinst du die gewöhnliche Art oder die andere mit der Kaffeebohne
oben drauf?«, fragte er.
»Die Art ohne
Weitere Kostenlose Bücher