Der Zeitdieb
Kaffeebohne«, sagte Susanne und hielt dem Blick stand.
»Nnn-nein. Nein, ich glaube nicht«, beantwortete Lu-Tze die Frage.
»Sie lernen«, erklang die Stimme einer anderen Frau hinter dem
Kehrer. »Einigen ist es gelungen, erfolgreich Widerstand zu leisten. Wir können lernen. Dadurch werden Menschen zu Menschen.«
Lu-Tze musterte die Fremde. Sie sah aus wie eine feine Dame, die
einen schlechten Tag in einer Dreschmaschine hinter sich hatte.
»Um alles richtig zu verstehen…«, sagte er und sah die beiden Frauen nacheinander an. »Ihr habt die grauen Leute mit Pralinen bekämpft?«
310
»Ja«, bestätigte Susanne und spähte um die Ecke. »Die Sinne sind
überfordert, und dadurch bricht das morphische Feld zusammen.
Kannst du gut werfen? Unity, gib ihm so viele Schokoladeneier, wie er tragen kann. Der Trick besteht darin, sie so hart aufprallen zu lassen, dass es möglichst viele Splitter gibt.«
»Wo ist Lobsang?«, fragte Lu-Tze.
»Nun, man könnte sagen, dass er im Geiste bei uns weilt.«
Blaue Funken blitzten in der Luft.
»Anfangsschwierigkeiten«, fügte Susanne hinzu.
Jahrhunderte der Erfahrung kamen Lu-Tze zu Hilfe.
»Er wirkte immer wie jemand, der sich finden muss«, sagte er.
»Ja. Und es war eine ziemliche Überraschung für ihn. Gehen wir.«
Tod sah auf die Welt hinab. Die Zeitlosigkeit hatte jetzt den Rand
erreicht und breitete sich mit Lichtgeschwindigkeit ins Universum aus.
Die Scheibenwelt glich einer kristallenen Skulptur.
Es war nicht nur eine Apokalypse. Davon hatte es viele gegeben: kleine Apokalypsen, nicht die richtige, große Sache. Scheinbare Apokalypsen.
Apokryphe Apokalypsen. Die meisten davon hatten sich damals ereignet, als »das Ende der Welt« nur einige Dörfer und eine Lichtung im Wald
betraf.
Und diese kleinen Welten hatten tatsächlich ein Ende gefunden. Aber
es gab immer einen anderen Ort, angefangen am Horizont. Die Flüchtlinge stellten fest, dass die Welt größer war als bisher
angenommen. Einige Dörfer auf einer Lichtung? Ha, wie hatten sie nur so dumm sein können! Jetzt wussten sie, dass die Welt aus einer ganzen Insel bestand! Und es gab immer den Horizont…
Jetzt existierten keine Horizonte mehr.
Tod beobachtete, wie die Sonne in ihrer Umlaufbahn verharrte. Ihr
Licht wurde trüber und verschob sich in den roten Bereich.
Er seufzte und gab Binky einen kleinen Stoß. Das Pferd trat vor, in
eine Richtung, die man auf keiner Karte fand.
Und der Himmel war voller grauer Kutten. Es kam Bewegung in die
311
Reihen der Revisoren, als sich ihnen das Weiße Ross näherte.
Einer glitt Tod entgegen und schwebte einige Meter entfernt in der
Luft.
Er sagte: Solltest du nicht losreiten?
SPRICHST DU FÜR ALLE?
Du kennst den Brauch, erklang die Stimme in Tod selbst. Bei uns spricht einer für alle.
WAS DERZEIT GESCHIEHT, IST FALSCH.
Das geht dich nichts an.
WIR SIND ALLE VERANTWORTLICH.
Das Universum wird ewig sein, sagte die Stimme. Alles bewahrt, geordnet, verstanden, geregelt, kontrolliert… ohne Veränderung. Eine perfekte Welt.
Vollendet.
NEIN.
Eines Tages endet sie ohnehin.
ABER DIES IST ZU BALD. ES GIBT UNERLEDIGTE DINGE.
Zum Beispiel?
ALLES.
Licht blitzte, und eine in Weiß gekleidete Gestalt erschien mit einem Buch in der Hand.
Sie sah von Tod zu den zahllosen Revisoren und fragte:
»Entschuldigung? Ist dies der richtige Ort?«
Zwei Revisoren überprüften die Anzahl der Atome in einer Steinplatte.
Sie existierte und musste daher gemessen werden.
Sie bemerkten Bewegung und sahen auf.
»Guten Tag«, sagte Lu-Tze. »Darf ich eure Aufmerksamkeit auf das
Schild richten, das meine Assistentin hochhebt?«
Susanne zeigte ein Schild mit der Aufschrift: »Die Vorschriften
verlangen einen offenen Mund.«
Lu-Tze öffnete seine Hände. Jede hielt eine Praline, und er konnte gut werfen.
312
Zwei Münder schlossen sich. Die Gesichter erstarrten. Es erklang ein Geräusch, das eine Mischung aus Schnurren und Heulen zu sein schien
und rasch im Ultraschallbereich verschwand. Und dann… lösten sich die Revisoren langsam auf. Zuerst verschwammen die Konturen, und als
sich der Vorgang beschleunigte, wurden die beiden Gestalten zu
Staubwolken.
»Hand-zum-Mund-Kampf«, sagte Lu-Tze. »Warum passiert so etwas
nicht bei Menschen?«
»Es passiert fast«, erwiderte Susanne. Als sie erstaunte Blicke auf sich ruhen spürte, fügte sie hinzu: »Zumindest bei dummen, disziplinlosen Menschen.«
»Du brauchst dich nicht darauf zu
Weitere Kostenlose Bücher