Der Zeitdieb
gibt es überall.
»Es geht wieder um Ludd«, sagte der Novizenmeister.
»Meine Güte. Ein freches Kind kann dich doch nicht beunruhigen,
oder?«
»Ein gewöhnliches freches Kind nicht, nein. Woher stammt er?«
»Meister Soto hat ihn geschickt«, antwortete Rinpo. »Erinnerst du dich an ihn? Er gehört zu unserer Sektion in Ankh-Morpork. Er fand den
Jungen in der Stadt. Hat ein natürliches Talent, soweit ich weiß.«
Der Novizenmeister wirkte schockiert. »Talent! Er ist ein verschlagener Dieb! Er ging in die Schule der Diebesgilde!«
»Und wenn schon«, erwiderte Rinpo. »Kinder stibitzen manchmal
etwas. Schlagt sie ein wenig, dann hören sie auf damit. Das ist einfache Erziehung.«
»Ah. Es gibt da ein Problem.«
»Ja?«
»Er ist sehr, sehr schnell. Um ihn herum gehen Dinge verloren. Kleine Dinge. Unwichtige Dinge. Aber selbst wenn man ihn genau im Auge
behält… Man sieht nie, wie er sie entwendet.«
»Dann stiehlt er sie vielleicht gar nicht.«
»Er geht durch ein Zimmer, und Dinge verschwinden!«, betonte der
Novizenmeister.
»Er ist so schnell? Dann können wir von Glück sagen, dass Soto ihn gefunden hat. Aber ein Dieb…«
»Später tauchen sie an sonderbaren Orten wieder auf«, sagte der
Novizenmeister mit offensichtlichem Widerstreben. »Bestimmt will er
Unruhe stiften.«
Der laue Wind wehte den Duft von Kirschblüten über die Terrasse.
»Weißt du, ich bin an Ungehorsam gewöhnt«, sagte der
Novizenmeister. »So etwas gehört einfach zum Leben eines Novizen.
Aber er ist auch unpünktlich.«
»Unpünktlich?«
»Er kommt zu spät zu seinen Lektionen.«
33
»Wie kann ein Schüler hier zu spät kommen?«
»Herrn Ludd scheint das gleich zu sein. Herr Ludd glaubt offenbar,
machen zu können, was er will. Außerdem ist er… gescheit.«
Der Akolyth nickte. Gescheit. Dieses Wort hatte hier im Tal eine
besondere Bedeutung. Ein gescheiter Junge glaubte, mehr zu wissen als seine Lehrer, gab freche Antworten und störte den Unterricht. Ein
gescheiter Junge war schlimmer als ein dummer.
»Widersetzt er sich der Disziplin?«, fragte der Akolyth.
»Als ich die Klasse gestern für Temporale Theorie ins Steinerne
Zimmer führte, starrte er einfach nur an die Wand. Er passte ganz
offensichtlich nicht auf. Als ich von ihm verlangte, die an der Tafel dargestellte Aufgabe zu lösen, obwohl er dazu eigentlich nicht in der Lage sein konnte… Er kam der Aufforderung nach und präsentierte mir
die korrekte Lösung.«
»Und? Du hast ihn eben als gescheiten Jungen bezeichnet.«
Der Novizenmeister wirkte verlegen. »Allerdings… Es war nicht die
richtige Aufgabe. Zuvor fand eine Lektion für die Sonderbeauftragten des Fünften Djim statt, und ein Teil des Tests stand noch an der Tafel: ein extrem komplexes Phasenraum-Problem mit Restschwindungen in n-Geschichtsstrukturen. Niemand von ihnen hat alles richtig gelöst. Um ganz ehrlich zu sein: Ich selbst musste im Buch nachschlagen.«
»Ich nehme an, du hast ihn bestraft, weil er nicht die richtige Frage beantwortet hat?«
»Natürlich. Aber solch ein Verhalten stört sehr. Ich glaube, die meiste Zeit über ist er in Gedanken ganz woanders. Er passt nie auf, weiß
immer die Antworten und kann nicht erklären, woher er sie weiß. Wir
können ihn nicht dauernd verprügeln. Er bietet den anderen Schülern ein schlechtes Beispiel. Ein gescheiter Junge lässt sich einfach nicht richtig erziehen.«
Der Akolyth beobachtete nachdenklich einige weiße Tauben, die über
den Dächern des Klosters kreisten. »Wir können ihn nicht fortschicken«, sagte er schließlich. »Soto hat gesehen, wie er den Stand des Koyoten vollführte! Auf diese Weise wurde er entdeckt! Stell dir das einmal vor ! Er hatte überhaupt keine Ausbildung. Und jetzt stell dir vor, was passieren 34
würde, wenn wir jemanden mit solchen Fähigkeiten frei herumlaufen
ließen. Zum Glück war Soto wachsam.«
»Aber er hat ihn in mein Problem verwandelt. Der Junge stört.«
Rinpo seufzte. Er kannte den Novizenmeister als einen guten,
gewissenhaften Mann, aber sein letzter Besuch in der Welt lag schon eine ganze Weile zurück. Leute wie Soto verbrachten jeden Tag in der Welt der Zeit. Sie lernten Flexibilität, denn wenn man dort draußen steif wurde, war man tot. Leute wie Soto… Plötzlich hatte er eine Idee.
Er sah zum anderen Ende der Terrasse, wo zwei Bedienstete zu Boden
gefallene Kirschbaumblüten zusammenfegten.
»Ich sehe eine harmonische Lösung«, sagte
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