Der Zeitdieb
er.
»Ach, ja?«
»Ein ungewöhnlich talentierter Junge wie Ludd braucht nicht die
Disziplin eines Klassenzimmers, sondern einen Meister.«
»Möglich, aber…«
Der Novizenmeister folgte Rinpos Blick.
»Oh«, sagte er und lächelte auf nicht ganz freundliche Art. Dieses
spezielle Lächeln enthielt ein erwartungsvolles Element, einen Hinweis darauf, dass sich Schwierigkeiten für jemanden ankündigten, der sie
seiner Meinung nach voll und ganz verdiente.
»Mir fällt ein Name ein«, sagte Rinpo.
»Mir auch«, erwiderte der Novizenmeister.
»Ein Name, den ich zu oft gehört habe«, fügte Rinpo hinzu.
»Ich schätze, entweder bricht er den Jungen, oder der Junge bricht
ihn«, meinte der Novizenmeister. »Oder vielleicht brechen sie sich
gegenseitig.«
»Also ganz gleich, aus welchem Blickwinkel man die Sache betrachtet: Es gibt keine Nachteile«, sagte Rinpo.
»Wäre der Abt damit einverstanden?«, fragte der Novizenmeister und
untersuchte eine willkommene Idee auf schwache Stellen. »Er begegnet dem… Kehrer immer mit einer gewissen Hochachtung.«
»Der Abt ist ein lieber, netter Mann, aber derzeit hat er Probleme mit seinen Zähnen, und das Gehen fällt ihm schwer«, sagte Rinpo.
35
»Außerdem sind dies schwere Zeiten. Bestimmt geht er auf unsere
gemeinsame Empfehlung ein. Eigentlich ist sie ja nur eine kleine Sache in der täglichen Routine.«
Und so wurde über die Zukunft entschieden.
Sie waren keine schlechten Männer. Seit Jahrhunderten arbeiteten sie im Auftrag des Tals zusammen. Aber nach einer Weile entstehen
manchmal gefährliche Denkmuster. So weiß man zum Beispiel, dass
wichtige Unternehmungen organisiert werden müssen, doch man
konzentriert sich beim Organisieren vor allem auf die Organisation und nicht auf das Unternehmen. Ein zweiter Fehler besteht darin zu glauben, Ruhe sei immer etwas Gutes.
Tick
Mehrere Wecker standen auf Jeremys Nachtschränkchen. Er brauchte sie nicht, denn er erwachte immer zur gewünschten Zeit. Sie dienten allein Testzwecken. Er stellte sie auf sieben und wurde um 6.59 Uhr wach, um zu prüfen, ob sie pünktlich läuteten.
An diesem Abend ging er früh zu Bett, mit einem Glas Wasser und
den Grimmigen Märchen.
Er war nie an Geschichten interessiert gewesen, ganz gleich in
welchem Alter. Mit dem grundlegenden Konzept konnte er einfach
nichts anfangen. Er hatte es nie fertig gebracht, irgendeine Erzählung bis zum Schluss zu lesen. Als Kind war er einmal sehr verärgert gewesen, als er in einem zerfledderten Märchenbuch das Bild einer Uhr sah, die
überhaupt nicht in die Zeit passte.
Er versuchte, die Grimmigen Märchen zu lesen. Sie enthielten Geschichten mit Titeln wie »Die alte Frau im Ofen« und »Wie die böse Königin in rot glühenden Schuhen tanzte«. Nirgends wurden Uhren
erwähnt. Die Autoren schienen Uhren ganz bewusst gemieden zu haben.
Allerdings… In »Die gläserne Uhr von Bad Schüschein« ging es um eine Uhr. In gewisser Weise. Und… sie war seltsam. Ein böser Mann –
der Leser wusste sofort, dass es sich um einen bösen Mann handelte,
denn es stand gleich auf der ersten Seite – baute eine Uhr aus Glas, in 36
der er die Zeit einfing. Aber etwas ging schief, denn eine Komponente der Uhr, eine Feder, konnte er nicht aus Glas bauen, und sie zerbrach unter der Belastung. Die Zeit wurde freigesetzt, und der Mann alterte in einer Sekunde um zehntausend Jahre. Er zerfiel zu Staub und war nie
wieder gesehen, was Jeremy kaum überraschte. Die Geschichte endete
mit einer Moral: »Große Dinge hängen von kleinen Details ab.« Für
Jeremy hätte es genauso gut heißen können: »Es ist falsch, nicht
existierende Frauen in Uhren einzufangen« oder »Mit einer gläsernen
Feder hätte es geklappt«.
Aber selbst für Jeremys unerfahrenes Auge stimmte mit der
Geschichte etwas nicht. Der Autor schien etwas zu beschreiben, das er gesehen oder von dem er gehört hatte, ohne es ganz zu verstehen. Und –
ha! – obwohl die Geschichte vor mehreren hundert Jahren spielte, als es selbst in Überwald nur natürliche Kuckucksuhren gegeben hatte, zeigte die Illustration eine große Standuhr von einer Art, wie es sie erst seit wenigen Jahren gab. Die Dummheit der Leute! Man hätte darüber lachen können, wenn es nicht so tragisch wäre!
Jeremy legte das Buch beiseite und verbrachte den Rest des Abends
mit Entwurfsarbeiten für die Gilde. Sie bezahlte ihn gut dafür, unter der Voraussetzung, dass er nie persönlich
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