Der Zeitdieb
Stelle
aufgewickelt!«
Einige der größeren Säulen hielten bereits an. Lobsang bewegte die
Stifte auf der Tafel jetzt so schnell, dass der verwunderte Lu-Tze keine Einzelheiten mehr erkennen konnte. An den Gestellen schlossen sich die Klappen, eine nach der anderen. Sie zeigten keine Farben mehr, sondern nur noch altes, schwarzes Holz.
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Niemand konnte so präzise sein, oder?
»Du bist jetzt bei Monaten angelangt, Junge, bei Monaten!«, rief er.
»Weiter so! Nein, meine Güte, jetzt sind es Tage… Tage ! Behalt mich im Auge!«
Der Kehrer lief zum Ende des Saals, wo kleinere Zauderer standen.
Hier wurde die Feinabstimmung der Zeit vorgenommen, mit Hilfe von
Zylindern, die aus Kreide, Holz und anderen kurzlebigen Materialien
bestanden. Erstaunt stellte er fest, dass sich einige von ihnen langsamer drehten.
Er eilte an etwa einen Meter hohen Eichensäulen vorbei. Selbst die
Zauderer, die Stunden und Minuten auf- und abwickelten, wurden
immer leiser.
Etwas quietschte.
Am Ende der Reihe schwankte ein kleiner Kreidezylinder wie ein
Kreisel auf seinem Lager.
Lu-Tze näherte sich und hob eine Hand. Das Quietschen war jetzt das
einzige Geräusch, abgesehen vom gelegentlichen Klink abkühlender Lager.
»Du hast es fast geschafft!«, rief er. »Langsamer… Warte, warte…
gleich ist es soweit…«
Der Kreidezylinder, nicht größer als eine Baumwollspule, wurde immer langsamer und… hielt an.
An den Gestellen schlossen sich die letzten beiden Klappen.
Lu-Tze ließ die Hand sinken.
»Jetzt! Weg von der Tafel! Niemand rührt etwas an!«
Für einen Moment herrschte völlige Stille im Saal. Die Mönche starrten und hielten den Atem an.
Dies war ein zeitloser Augenblick des perfekten Gleichgewichts.
Tick
Und in diesem zeitlosen Augenblick sagte der Geist von Herrn
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Schoblang, für den alles undeutlich und verschwommen war, wie durch
Gaze betrachtet: »So etwas ist unmöglich ! Hast du das gesehen?«
WAS MEINST DU?, fragte die dunkle Gestalt hinter ihm.
Schoblang drehte sich um. »Oh«, sagte er und fügte mit plötzlicher
Gewissheit hinzu: »Du bist der Tod, nicht wahr?«
JA. TUT MIR LEID, DASS ICH ZU SPÄT KOMME.
Schoblangs Geist blickte auf den Staub hinab, der von seiner
sechshundert Jahre langen körperlichen Existenz übrig geblieben war.
»Ich schätze, Zeit spielt jetzt keine Rolle mehr für mich. Immerhin
habe ich das Zeitliche gesegnet.« Er stieß Tod in die Rippen.
ENTSCHULDIGUNG?
»Zeit spielt keine Rolle mehr für mich – weil ich das Zeitliche gesegnet habe. Bumm-bumm.«
BITTE UM VERZEIHUNG?
»Äh, du hast von einer Verspätung gesprochen, und ich, äh, die
Zeit…«
Tod nickte. OH, ICH VERSTEHE. NUR DAS »BUMM-BUMM«
BLEIBT MIR RÄTSELHAFT.
»Damit wollte ich betonen, dass es sich um eine Art Wortspiel
handelt«, erklärte Schoblang.
JA, MIR IST DURCHAUS KLAR, WARUM DU DARAUF
HINGEWIESEN HAST. NUN, HERR SCHOBLANG, DIE ZEIT
MAG KEINE ROLLE MEHR FÜR DICH SPIELEN, ABER DU BIST
TROTZDEM ZU FRÜH DRAN. BUMM-BUMM.
»Wie bitte?«
DU BIST VOR DEINER ZEIT GESTORBEN.
»Das habe ich mir gleich gedacht!«
WEISST DU, WAS DER GRUND DAFÜR SEIN KÖNNTE? SO
ETWAS IST SEHR UNGEWÖHNLICH.
»Ich weiß nur, dass die Zauderer plötzlich verrückt spielten, und ich bekam eine volle Ladung ab, als sie sich viel zu schnell drehten«,
antwortete Schoblang. »Aber he, was ist mit dem Jungen? Hätte ich doch 129
nur die Möglichkeit bekommen, ihn auszubilden! Ach, was sage ich da?
Er hätte mir den einen oder anderen Tipp geben können!«
Tod sah sich um. WEN MEINST DU?
»Den Jungen auf dem Podium. Siehst du ihn?«
NEIN, ICH FÜRCHTE, ICH SEHE DORT NIEMANDEN.
»Was? Aber da steht er doch! Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock…«
ICH HABE NUR EINE SENSE UND SEHE, WIE SICH DIE
FARBIGEN PFLÖCKE BEWEGEN…
»Und wer bewegt sie? Meine Güte, du bist der Tod. Du solltest jeden
sehen können!«
Tod blickte zu den tanzenden Spulen.
ICH SEHE ALLE, DIE ICH… SEHEN SOLL, erwiderte er und
beobachtete die Tafel.
»Ähm«, sagte Schoblang.
OH, JA. WO WAREN WIR STEHEN GEBLIEBEN?
»Wenn ich zu früh dran bin… Könntest du dann nicht…«
WAS GESCHEHEN IST, BLEIBT GESCHEHEN.
»Welche Art von Philosophie ist das denn?«
DIE EINZIGE, DIE FUNKTIONIERT. Tod holte ein Stundenglas
hervor und betrachtete es. ICH STELL FEST, DASS DEINE
REINKARNATION AUFGRUND DIESES PROBLEMS ERST IN
NEUNUNDSIEBZIG JAHREN STATTFINDEN WIRD. HAST DU
EINE BLEIBE?
»Eine Bleibe?«,
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