Der Zeitenherrscher
durch unsere Welt und saugt alles auf, was ihn umgibt. Was er hört und sieht, was er schmeckt und riecht, all das kann er zwar noch nicht verstehen, doch er ist offen dafür und speichert es in seinem Gehirn. Ohne es zu ahnen, trägt jedes Kind also alles Wissen seiner Zeit und seiner Welt in seinem Kopf mit sich.
Später dann, wenn ein Mensch älter wird, beginnt er zu vergessen, was nicht unmittelbar mit ihm selbst zu tun hat. Er interessiert sich nur noch für sich selbst. Alles andere ist uninteressant und wird vergessen.“
Wieder legte er eine Hand auf Simons Schulter. „Versteht du: All das Wissen einer Kultur, das in Kinderköpfen steckt, alleGeheimnisse und Eindrücke – sie werden einfach vergessen! Doch deine Freunde auf dem Seelensammler sind noch jung. Sie haben alle Eindrücke noch frisch in ihren Köpfen.“
Er wandte sich zur Wand um und blickte nun beinahe liebevoll auf seine Zeitenkrieger. „Darum sind sie hier. Jede und jeder von ihnen stand kurz davor, erwachsen zu werden, als ich sie mit mir genommen habe. Noch befindet sich alles Wissen ihrer Kulturen in ihren Köpfen. Und dieses Wissen wird am Tage meines Triumphes auf mich übergehen. Wenn ich mit meinem Zauber die Zeremonie einleite, in dem Moment, in dem ich der Herrscher über Zeit und Raum werde, dann werde ich alle Kulturen in mich aufsaugen, und ich werde gerüstet sein für das, was mich erwartet.“
Er wies auf Neferti: „Von ihr werde ich das Wissen über die Kultur der Toten erfahren und über die Techniken, diesem Tod zu begegnen. Mit den Pyramiden und ihren Bräuchen sind die Ägypter dem Tod so nahe gekommen wie kaum eine andere Kultur. Dieses Wissen wird mir weiterhelfen.“
Nun zeigte er auf Moon und fuhr dann fort: „Er wird mir die Naturverbundenheit und die Erfahrung im Umgang mit der Umwelt schenken.“ Sein dürrer Finger wanderte weiter, von Zeitenkrieger zu Zeitenkrieger: „Dem Mädchen aus Ur werde ich die fundamentalen Kenntnisse um Architektur und Baukunst verdanken. Und von Caspar werde ich den Kampfesgeist und den eisernen Willen erben, der von dem Jungen und seiner Zeit ausgeht. Dann werde ich gerüstet sein. Dann wird meine Zeit entstehen. Dann werde ich über die Welt herrschen. Die Menschen werden mir unterworfen werden. Ich werde über sie regieren. Und es wird keinen Krieg mehr geben und keinen …“
„Aber … aber das ist doch Wahnsinn!“, schrie Simon heraus. „Ihr könnt doch nicht alle Menschen unterwerfen. Ihr könnt doch nicht …“
„Verstehst du noch immer nicht? Es geschieht einzig und allein zum Nutzen der Menschheit. Sie selbst können nicht auf sich Acht geben. Und so benötigen sie jemanden, der dies für sie übernimmt! Ich werde für sie sorgen. Ich werde sie in meiner neuen Welt …“
„Aber jeder Mensch hat einen freien Willen“, widersprach Simon. „Jeder Mensch ist frei und hat ein Recht darauf …“
„Hah!“ Der Schattengreifer schrie auf. „Ein Recht auf seine Freiheit? Was haben sie denn gemacht, die Menschen, mit all ihrer Freiheit? Statt füreinander da zu sein, bekriegen sie sich und gehen aufeinander los.“
„Aber nicht alle Menschen sind so.“
„Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich werde mir
die Welt untertan machen, und es wird vor allem eines regieren: der Frieden.“
Simon fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. „Aber das ist doch verrückt. Irrsinn ist das. Ihr werdet die Menschen zu Gefangenen machen. Zu Sklaven Eurer Welt.“
„Und es wird ihnen besser gehen!“
Simon erschrak zutiefst über die Entschlossenheit des Schattengreifers. Wenn seine Absicht vielleicht auch gut war, so konnte er doch nicht die ganze Menschheit unterwerfen. Er konnte doch nicht der Welt seinen Willen aufzwingen.
In was für einen Albtraum war Simon hier bloß geraten!
Der Schattengreifer drehte sich um. „Ich denke, nun hast du deine Antworten auf all deine Fragen. Nun weißt du, dass ich nur Gutes im Schilde führe. Dass mein Plan eine bessere Weltzum Ziel hat. So hoffe ich, dass du den Kampf gegen mich einstellst und dich mit mir gemeinsam für mein Vorhaben starkmachst.“
Mit einer weit ausholenden Geste seines linken Arms ließ der Schattengreifer die Wand um sie beide verschwinden, und Simon war erstaunt, dass sie sich wieder in der Höhle befanden. Er stand vor den Kohlestrichen an der Wand, die ihm mittlerweile so vertraut vorkamen.
Simon streckte vorsichtig eine Hand danach aus und berührte den kalten Stein. Kein Zweifel: Dies war
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