Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Zeitenherrscher

Titel: Der Zeitenherrscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
Vom Netzwerk:
hier.
    Papa!“
    Nur noch ein dünner Schleier war von dem Schiff zu sehen.
    Ein nebelhafter Gruß. Wie ein Hauch zum Abschied. Eine letzte sanfte Berührung vor der Trennung.
    „Bleibt!“, brüllte der Junge über die Wellenspitzen hinweg. „Bleibt bei mir!“
    Er weinte.
    „Warum hast du mich bloß hiergelassen, Papa? Wieso hast du mir meine Freunde genommen?“
    Simon sank in sich zusammen. „Warum?“
    Etwas berührte ihn an der Schulter. Simon schluchzte und hob den Kopf. Seine Mutter hatte sich neben ihn in den Sand gesetzt. Auch ihr flossen Tränen über das Gesicht.
    „Ich verstehe nicht, was hier geschieht“, sagte sie. „Heute Morgen bin ich erwacht und fand mich plötzlich in einer Welt wieder, die ich nicht mehr erkenne. Ich sehe plötzlich Dinge, die ich nicht begreife.“ Sie rückte näher an ihn heran. „Ich habe dich rufen gehört. Alle diese Namen sagen mir nichts. Ich verstehe auch die Wut auf deinen Vater nicht. Doch eines weiß ich ganz genau: Was immer er getan hat, er tat es für dich.“
    Simon nickte nachdenklich. „Ich weiß es ja“, flüsterte er. „Dennoch: Es war falsch. Er durfte nicht mit ihnen gehen. An meiner Stelle. Er …“
    Plötzlich überkam ihn eine Erkenntnis. Wie ein Stoß in tiefes Eiswasser. Sein Herz setzte für einen Moment aus.
    „Was ist mit dir?“, fragte Jessica. „Was hast du?“
    Simon sah sie bestürzt an. „Er hätte es nicht tun dürfen“, stieß er hervor. „Papa wurde ausgetrickst. Der Schattengreifer hat ihn überlistet. Und Vater hat es nicht erkannt!“
    Sie war dem Verzweifeln nahe. „Was …?“
    Simon sprang auf die Füße. Seine Augen suchten wieder die Stelle auf dem Meer, an der er vorhin noch den Seelensammler gesehen hatte.
    Das breite Grinsen des Schattengreifers vorhin in Simons
Vorstellung war eindeutig – sie waren überlistet worden. „Wie weit bist du bereit zu gehen?“, hatte der Magier gefragt.
    Doch weder Vater noch Sohn hatten die Frage richtig verstanden. Keiner von ihnen hatte die Tiefe und die Verlogenheit dieser Frage ermessen können.
    „Wie weit würdest du gehen?“
    Der Schattengreifer führte Christian in eine ausweglose Situation. Mit dem Schiff waren sie bereits auf dem Weg zu einer Falle.
    Wenn Christian bereit war, sich für seinen Sohn zu opfern – wenn er bereit war, an den Punkt zurückzukehren, an dem er das Schiff einst verlassen hatte, dann würde er damit die Vergangenheit verändern. Jetzt erst verstand Simon alles: Wenn Christian nicht, so wie einst, von Bord des Schiffes springen würde, wenn er auf dem Seelensammler bleiben und sich weiter in den Dienst des Magiers stellen würde, dann könnte Simon nicht geboren werden. Dann gäbe es die Gegenwart, wie sie heute war, nicht mehr. Dann wären Christian und Jessica nicht verheiratet, und sie hätten auch keinen Sohn.
    Vielleicht waren sie bereits unterwegs dorthin. Vielleicht fuhren sie gerade durch die Zeit zu dem Moment, an dem Christian als Jugendlicher auf der Reling stand und im Begriff war zu springen. Und sollte es dem Schattengreifer gelingen, Christian zu überzeugen, würde Simon augenblicklich sein Leben verlieren.
    War es das, was der Schattengreifer im Sinn hatte? Wollte er seinen allerersten Jugendlichen, Christian, wieder an Bord? Und wollte er sich auf diesem Weg seines einzigen Zeugen entledigen, Simon? War dies die Rache dafür, dass Simon ihm nicht gehorcht hatte?
    Er, der Schattengreifer, der immer wieder durch wahre Gefühle an die Grenzen seiner Magie geraten war, hatte sich nun die wahren Gefühle eines Vaters für seinen Sohn zunutze gemacht. Der, dessen Ziele durch echte Gefühle durchkreuzt worden waren, hatte dank echter Vaterliebe seinem Vorhaben die Krone aufgesetzt.
    Die Rache des Schattengreifers. Er hatte die Spielregeln einfach auf den Kopf gestellt.
    Simon stand am Meer und ballte die Hände zu Fäusten. Sein Vater hatte ihn nicht gerettet, so wie er es erhofft hatte. Sein Vater hatte sie beide in Lebensgefahr gebracht.
    Und Simon hatte keine Möglichkeit, ihn zu warnen.
    Es gab keinen Weg zurück auf das Schiff.
    Er war dazu verdammt, zu warten. Zu warten, wie sich der Vater in der Vergangenheit entschied.

Über den Autor
    Stefan Gemmel, geb. 1970, ist mit über 30 Veröffentlichungen der meistübersetzte Schriftsteller in Rheinland-Pfalz.
    Überregional bekannt wurde er auch durch seine originellen Lesungen und Schreibwerkstätten. Der erste Band der »Schattengreifer«-Trilogie Die Zeitensegler wurde mit dem

Weitere Kostenlose Bücher