Der zeitlose Winter
verhängnisvolle Entscheidung. Nachts, während er schlief, schrieb ich die Bücher um und verwandelte sie in ein Kompendium aus Mythen und Legenden, Sagen und Märchen. Wenn wir schon ein Buch über Dinge schrieben, die sich nie ereignet hatten – so sagte ich mir – konnte ich sie wenigstens interessant machen.
Natürlich wusste ich nicht, welche Folgen meine Veränderungen haben würden, denn von Lucius’ wahren Plänen hatte ich keine Ahnung. Als wir schließlich die Bibliothek erreichten, hieß man mich und die Bücher willkommen. Lucius aber wurde als das erkannt, was er wirklich war: Ein Erlkönig, dessen Zeit abgelaufen war.
Die Ankoriten ließen ihm die Wahl zwischen dem wahren Tod und einer großen Gabe. Er wollte unbedingt Kenntnis von den Prophezeiungen der Ewigkeit besitzen und kühnerweise glaubte er, seine eigenen Prophezeiungen erschaffen zu können. Deshalb bot ihm der älteste der Ankoriten an, die Mysterien der Schöpfung für ihn zu öffnen: ihm alle Geheimnisse zu offenbaren. Er nahm die Gabe an, ohne zu begreifen, dass nur die Toten wirklich alles wissen.«
»Ihr habt ihn reingelegt«, sagte Ham.
»Ich habe ihm gegeben, was er wollte«, sagte Duk. »Das Wissen ganzer Zeitalter und ein Reich von unübertroffener Macht. Er ist dem Zustand des Nirwana so nahe wie nur irgend möglich. Er verfügt über mehr Wissen als jeder Lebende oder Tote und ist mit allem verbunden, das seiner Herrschaft untersteht. Aber er ist für immer unter jenen gefangen, deren Geschichten vorbei sind und die keinerlei Beziehungen mehr pflegen, außer zu den Würmern und dem Staub des Grabes.
Niemand überschreitet die Schwelle des Todes, ohne sein Königreich zu besuchen, und über das Wissen, das bei ihm zurückbleibt, kann er frei verfügen. Er kann dieses Wissen nach eigenem Gutdünken anwenden und es teilen mit wem er will… nur hat ihn niemals jemand danach gefragt.«
»Also«, sagte Fischmehl, »ist er nun tot oder nicht?«
»Es gibt viele Formen des Todes«, erklärte der Buddha dem Kartografen. »Eine davon besteht darin, lebendig zu sein und dennoch kein anderes lebendes Wesen berühren zu dürfen. Ein Leben in völliger Isolation ist eigentlich kein Leben.«
»Und was ist mit Bragi passiert?«
»Die Zeit für Bragis Aufnahme in die Bibliothek war noch nicht gekommen, denn die Begegnung mit Lucius hatte seine Ankunft beschleunigt. Die Geschichten, die B aufzeichnen und den Ankoriten überbringen sollte, waren noch ungeschrieben. So ging er also nach Europa und begann seine Karriere als Bragi Boddason, der Dichter. Etwa ein Jahrhundert später, als seine Arbeit abgeschlossen war, kehrte er zu dem Berg und der Bibliothek zurück.«
Das Feuer war bereits niedergebrannt und der Suppentopf sauber ausgekratzt, als Duk den Gefährten erklärte, was sie seiner Meinung nach tun sollten. »Zu allererst müssen wir die Umkehrung anhalten. Das gegenwärtige Muster muss verankert werden oder alles ist verloren. Nur die Ankoriten können das tun – wir müssen uns also auf der Stelle zur Bibliothek begeben.«
»Wenn sie die Einzigen sind, die das tun können«, sagte Fischmehl, »warum musst du dann dorthin gehen?«
»Er ist der einzige lebende Zeuge einer Galder- Umkehrung«, sagte Bragi, »und der Einzige, der jemals die Verankerung der Muster überwacht hat. Die Tatsache, dass das noch nicht in die Wege geleitet wurde, deutet auf drei Möglichkeiten hin: Die Ankoriten haben nicht bemerkt, dass eine Umkehrung im Gange ist – was eher unwahrscheinlich ist; sie haben es bemerkt, wissen aber nicht, wie sie sie aufhalten sollen; oder in der Bibliothek ist irgendetwas Furchtbares geschehen. Egal, was davon zutrifft, wir müssen dorthin, und zwar schnell.«
Während sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpackten und sich daran machten, das Dorf zu verlassen, wandte sich Ham mit einer Frage an Duk, die ihn während des ganzen Gesprächs beschäftigt hatte.
»Du hast erzählt«, sagte er langsam, »mit Jesu Ankunft in der Bibliothek sei dort zum ersten Mal ein Erlkönig als Ankorit eingetroffen. Bist du nicht auch ein Erlkönig? Und warst du nicht vor ihm dort?«
»Das ist richtig«, mischte sich Bragi ein, »aber im Gegensatz zu vielen, die ihre Reise als Wächter über die Geschichten beendeten, hat seine Reise dort begonnen. Der Buddha ist in der Bibliothek des Himmels geboren worden.«
»Duk – oder Gautama Siddhartha, wie er damals hieß – war der erste, dem der Zutritt zur
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