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Der zeitlose Winter

Der zeitlose Winter

Titel: Der zeitlose Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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Fischmehl.
    »Es sei denn«, schloss Duk, »man wird selbst zu einem Gott.«
    »So wie du?«
    »Ich bin kein Gott«, sagte Duk. »Ich glaube, dass Gott eins ist mit dem Unendlichen, und dieser Zustand hat sehr wenig mit der sterblichen, menschlichen Hülle zu tun, die ich trage. Meinem begrenzten Wissen nach gab es in der Geschichte nur drei Fälle, bei denen dies geschehen ist, dass ein Sterblicher göttliche Eigenschaften angenommen hat und allen Absichten und Zielen nach zu einem Gott wurde: der Babylonier Gilgamesch, der Hebräer Joshua, den man Jesus Christus nannte, und unser Freund, der Skalde.«
     

     
    »Das Kind, das an der Wegkreuzung gefunden wurde, nahm die Geschichten und Kulturen der Länder, die es durchquerte, in sich auf. Ihm wurde bewusst, dass es einen großen Konflikt in sich trug: Es wollte unbedingt wissen, welche der Schöpfungsgeschichten wahr sei.«
    »Haben die Reisenden ihm den Namen Bragi gegeben?«, fragte Fischmehl.
    »Nein«, sagte Duk. »Das kam später. Da er keinen Namen hatte, nannten sie ihn Stiefelchen.«
    »Ist das dein Ernst?«, fragte Fischmehl. »Sein Name war wirklich Stiefelchen?«
    »Ja«, sagte Duk. »Warum?«
    »Schon gut«, sagte Fischmehl und blickte Bragi argwöhnisch an. »Ich erinnere mich nur, diesen Namen einmal in einer Geschichte gehört zu haben.«
    »Eine der Reisenden, eine Frau namens Z, schlug Stiefelchen eine Möglichkeit zur Lösung seines Dilemmas vor. In jener Zeit glaubte man, dass einem beim Besuch des howes eines Vorfahren, in der Zwiesprache mit ihm das eigene Schicksal enthüllt werden konnte. Es handelte sich dabei weniger um Totenbeschwörung, als um Weissagung oder Meditation. Außerdem glaubte man, dass jeder, der eine gesamte Nacht auf einem Grabhügel verbrachte, ohne dabei den Verstand zu verlieren, mit dem Talent eines Barden gesegnet wurde. Z kannte den Standort eines solchen howes - am Rhein, in einer Stadt, die heute Bingen heißt. Da die Götter des Nordens ihre Völker gezeugt haben sollen, glaubte Z, Stiefelchen könnte die gewünschte Antwort erhalten, indem er eine Nacht auf jenem howe verbrachte, von dem es hieß, er würde einen Gott beherbergen… der howe von Bragi dem Älteren.«
    »Der Gott Bragi war gestorben?«, fragte Ham überrascht. »Ich wusste nicht, dass Götter sterben können.«
    »Alles geht einmal zugrunde«, sagte Duk. »Ob es ein sinnvoller Tod ist oder nicht, hängt vom Zeitpunkt ab.«
    »Also, was ist passiert?«, fragte Fisch.
    »Sie haben mich auf dem howe zurückgelassen«, sagte Bragi. »Damals konnte ich jedoch noch nicht wissen, dass es die Nacht des Unsichtbaren Mondes war – eine Nacht der Veränderung – und außerdem das Ende eines kleinen, aber nicht unbedeutenden Kreislaufes.«
    »Eine Umkehrung?«, fragte Fisch. »Du hast während einer Umkehrung auf dem howe übernachtet?«
    »Ja. Und während ich schlief, fand eine seltsame Zwiesprache statt: Erinnerungen und Wissen, das mir gehörte und doch zugleich vollkommen fremd war, wurde auf ewig mein. Taten, für deren Ausführung mein ganzes bisheriges Leben nicht ausgereicht hätte, überwältigten mich und erfüllten mich mit den Freuden und der Schuld eines tausende Jahre währenden Lebens. Die Verpflichtungen, die das Schicksal ganzer Kulturen mit sich brachte, wurden auf mich in demselben Augenblick übertragen, als sich der Umhang eines Gottes, der Umhang eines Erlkönigs, auf ein namenloses und heimatloses Kind senkte.«
    Er hielt einen Moment inne.
    »In diesem Augenblick wurde ich zu ihm und er wurde ich. Zusammen waren wir Bragi.«

 
KAPITEL ELF
Die verlorenen Bücher
     
    »Er ist kein Gott«, sagte Hammurabi, der abrupt aufgestanden war und in den hinteren Teil des Häuschens ging. »Nimm es mir nicht übel, Bragi – oder Wasily oder Stiefelchen oder wie immer du heißt, aber du entsprichst dem einfach nicht.«
    »Es tut mir Leid, wenn ich dich enttäusche«, sagte Bragi. »Meine Idee war das auch nicht.«
    »Was macht denn eine Gottheit aus, Ham?«, fragte Duk.
    »Das… das kann ich wirklich nicht sagen«, sagte Ham gereizt. »Ich weiß nur, dass ich einen Gott erkennen würde, wenn ich ihn sehe – und er ist keiner.«
    »Aber Allah schon?«
    »Ja.«
    »Und wann hast du Allah gesehen?«
    Darauf schwieg Hammurabi.
    »Ich glaube«, sagte Duk, »dass die Schöpfung aus vielen Seinsstufen besteht. Wollen wir uns um des Gespräches willen darauf einigen, dass Bragi – Gott oder nicht – nicht mehr derselbe war wie

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