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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Schultern war unter dem Laken deutlich sichtbar.
    »Es sieht lächerlich aus so«, heulte Sue.
    »Nein, gar nicht«, sagte Julie heftig. Sue griff nach vorn und zog das Laken von Mutters Kopf herunter, und fast gleichzeitig boxte Julie Sue hart auf den Arm und schrie, »Laß das.« Die Tür ging hinter uns auf und Tom stand im Zimmer, noch atemlos von seinem Spiel auf der Straße.
    Sobald Julie und ich ihn gepackt hatten, sagte er, »Ich will Mammi.«
    »Sie schläft«, flüsterten wir, »schau, das siehst du doch.« Tom wand sich, um an uns vorbeizukommen.
    »Warum habt ihr dann so geschrien? Überhaupt, sie schläft nicht, oder, Mammi?«
    »Sie schläft ganz fest«, sagte Sue. Einen Augenblick schien es, als könnten wir durch Schlaf, einen sehr tiefen Schlaf, Tom mit dem Begriff vom Tod vertraut machen. Aber wir wußten davon nicht mehr als er, und er ahnte, daß etwas nicht stimmte.
    »Mammi!« brüllte er, und wollte sich zum Bett durchkämpfen. Ich hielt ihn an den Handgelenken fest.
    »Geht nicht«, sagte ich. Tom trat mir gegen den Knöchel, riß sich los, und schlüpfte zu Julie ans Kopfende des Bettes. Er suchte mit einer Hand an Mutters Schulter Halt, zog sich die Schuhe aus und schaute uns triumphierend an. Dergleichen war schon öfter vorgefallen, und manchmal bekam er seinen Willen. Ich war inzwischen dafür, daß er es selbst entdeckte, ich wollte nur sehen, was passierte. Aber sobald Tom das Bettzeug zurückschlug, um neben seine Mutter zu klettern, sprang Julie nach vorn und griff Tom am Arm.
    »Komm«, sagte sie sanft, und zog an ihm.
    »Nein, nein.«, quiekte Tom, wie immer, und hielt sich am Ärmel von Mutters Nachthemd fest. Wie Julie zog, kippte Mutter auf eine beängstigende, hölzerne Weise zur Seite, ihr Kopf schlug auf dem Nachttisch auf, und die Uhr und das Wasserglas krachten auf den Boden. Ihr Kopf blieb eingeklemmt zwischen dem Bett und dem Tischchen, und auf dem Kopfkissen wurde eine Hand von ihr sichtbar. Tom wurde still und reglos, fast starr, und ließ sich von Julie wie ein Blinder hinausführen. Sue war schon gegangen, obwohl ich das nicht bemerkt hatte. Ich verharrte einen Augenblick und überlegte, ob ich die Leiche wieder in eine aufrechte Stellung schieben sollte. Ich ging einen Schritt zu ihr hin, konnte aber die Vorstellung nicht ertragen, sie anzufassen. Ich rannte aus dem Zimmer, schlug die Tür zu, drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein.
    Am frühen Abend weinte sich Tom auf dem Sofa unten in den Schlaf. Wir deckten ihn mit einem Badetuch zu, weil keiner hinaufgehen und eine Decke holen wollte. Den übrigen Abend saßen wir im Wohnzimmer herum, ohne viel zu reden. Ein- oder zweimal fing Sue an zu weinen und gab es dann wieder auf, als wäre es über ihre Kräfte gegangen. Julie sagte, »Wahrscheinlich ist sie im Schlaf gestorben«, und Sue und ich nickten. Ein paar Minuten später sagte Sue, »Es hat nicht wehgetan.« Julie und ich murmelten zustimmend. Langes Schweigen, dann sagte ich, »Seid ihr hungrig?« Meine Schwestern schüttelten den Kopf. Ich wollte unbedingt etwas essen, aber nicht allein. Ich wollte nichts alleine tun. Als sie endlich auch etwas wollten, holte ich Brot, Butter, Orangenmarmelade und zwei Flaschen Milch. Beim Essen und Trinken kam eine Unterhaltung in Gang. Julie erzählte uns, sie hätte es seit zwei Wochen vor meinem Geburtstag »gewußt«.
    »Als du den Handstand gemacht hast«, sagte ich.
    »Und du hast >Greensleeves< gesungen«, sagte Sue. »Aber was hab ich gemacht?« Wir konnten uns an nichts erinnern, und Sue sagte solange, »Ich weiß doch, daß ich irgendwas gemacht hab«, bis ich zu ihr sagte, sie solle den Mund halten. Etwas nach Mitternacht gingen wir nach oben und hielten uns auf der Treppe dicht beisammen. Julie ging voran, und ich trug Tom. Auf dem ersten Absatz blieben wir stehen und drängten uns zusammen, bevor wir an Mutters Tür vorbeigingen. Ich glaubte, den Wecker hören zu können. Ich war froh, daß die Tür zugesperrt war. Wir legten Tom zu Bett, ohne ihn zu wecken. Die Mädchen hatten sich wortlos darauf geeinigt, im selben Bett zu schlafen. Ich ging in mein Bett und lag angespannt auf dem Rücken; ich drehte den Kopf heftig zur Seite, wenn mir ein Gedanke oder ein Bild kam, das ich nicht haben wollte. Nach einer halben Stunde ging ich in Toms Zimmer und trug ihn zu mir ins Bett. Ich bemerkte, daß in Julies Zimmer noch Licht war. Ich legte meine Arme um meinen Bruder und schlief ein.
    Gegen Ende des nächsten Tags

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