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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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sagte Sue, »Meint ihr nicht, wir sollten es jemand sagen?«
    Wir saßen um den Steingarten. Wir waren den ganzen Tag im Garten gewesen wegen der Hitze, und weil wir Angst hatten vor dem Haus hinter uns, dessen Ausdruck uns nicht mehr an Konzentration erinnerte, sondern an tiefen Schlaf. Am Morgen hatte es einen Streit gegeben wegen Julies Bikini. Sue hielt es nicht für richtig, ihn anzuziehen. Ich sagte, mir wäre es gleich. Sue sagte, wenn Julie den Bikini anzöge, dann hieße das, daß ihr Mammi gleichgültig wäre. Tom fing zu weinen an, und Julie ging hinein und zog ihren Bikini aus. Ich ging den ganzen Tag lang einen Stoß alter Comics durch, auch solche von Tom. Im Hinterkopf hatte ich das Gefühl, als säßen wir da und warteten auf ein schreckliches Ereignis, und dann fiel mir ein, daß es schon geschehen war. Sue blätterte in ihren Büchern und weinte manchmal vor sich hin. Julie saß oben auf dem Steingarten und klapperte in der hohlen Hand mit Kieselsteinen, die sie hochwarf und wieder auffing. Sie war gereizt Tom gegenüber, der einmal heulte und Zuwendung wollte, und dann gleich wieder zum Spielen ging, als wäre nichts geschehen. Einmal wollte er sich an Julies Knie hängen, und ich hörte sie sagen, wie sie ihn wegschubste, »Geh weg. Bitte geh weg.« Später las ich ihm aus einem der Comics vor.
    Als Sue ihre Frage stellte, schaute Julie kurz auf und dann wieder weg. Ich sagte, »Wenn wir es jemand sagen.« und wartete. Sue sagte, »Wir müssen es jemand sagen, damit es ein Begräbnis gibt.« Ich blickte zu Julie hin. Sie schaute über unseren Zaun und die leere Fläche hinweg zu den Wohnblöcken.
    »Wenn wir’s ihnen sagen«, fing ich wieder an, »dann kommen sie und geben uns in Pflege, in ein Waisenhaus oder sowas. Vielleicht suchen sie jemand, der Tom adoptiert.« Ich hielt inne. Sue war entsetzt. »Das können sie nicht machen«, sagte sie.
    »Und dann steht das Haus leer«, fuhr ich fort, »und dann brechen sie ein, und nichts bleibt übrig.«
    »Aber wenn wir’s niemand sagen«, sagte Sue und machte eine vage Geste zum Haus hin, »was machen wir dann?« Ich schaute wieder zu Julie hin und sagte lauter, »Die Kinder von drüben kommen rein und schlagen alles kaputt.« Julie warf die Kiesel über den Zaun. »Wir können sie nicht im Schlafzimmer lassen, sonst fängt sie an zu riechen.« Sue schrie fast. »Wie kannst du sowas Furchtbares sagen.«
    »Du meinst«, sagte ich zu Julie, »wir sollten es niemand sagen.«
    Julie ging weg und aufs Haus zu ohne zu antworten. Ich sah ihr zu, wie sie in die Küche ging und sich Wasser ins Gesicht spritzte. Sie hielt den Kopf unter den Kaltwasserhahn, bis ihr Haar durchnäßt war, dann wrang sie es aus und strich es sich aus dem Gesicht. Wie sie wieder auf uns zukam, liefen ihr Wassertropfen auf die Schulter. Sie setzte sich auf den Steingarten und sagte, »Wenn wir es niemand sagen, müssen wir selber schnell was unternehmen.« Sue war den Tränen nahe.
    »Aber was können wir denn unternehmen?« jammerte sie. Julie machte es etwas dramatisch. Sie sagte sehr ruhig, »Sie begraben natürlich.« Obwohl sie so schroff tat, schwankte ihre Stimme.
    »Ja«, sagte ich, erschauernd vor Grauen, »wir machen ein Privatbegräbnis, Sue.« Meine jüngere Schwester weinte jetzt stetig und Julie legte ihr den Arm um die Schulter. Über Sues Kopf hinweg sah sie mich kalt an. Ich war plötzlich zornig auf sie beide. Ich stand auf und ging vor das Haus, um zu sehen, was Tom trieb.
    Er saß mit einem andern Jungen in dem gelben Sandhaufen neben der Gartentür. Sie gruben ein kompliziertes System von faustgroßen Tunnels.
    »Er sagt«, sagte Toms Freund verächtlich und blinzelte zu mir herauf, »er sagt, er sagt, seine Mammi wäre grade gestorben, und das stimmt gar nicht.«
    »Doch, es stimmt«, sagte ich zu ihm. »Sie ist auch meine Mammi, und sie ist grade gestorben.«
    »Ätsch-bätsch, ich hab’s dir gesagt, ätsch-bätsch«, höhnte Tom und vergrub die Handgelenke tief im Sand.
    Sein Freund dachte einen Augenblick nach. »Also meine Mammi ist nicht tot.«
    »Mir doch gleich«, sagte Tom, ganz mit dem Tunnel beschäftigt.
    »Meine Mammi ist nicht tot«, wiederholte der Junge, zu mir gewandt.
    »Na und?« sagte ich.
    »Weil sie nämlich nicht tot ist«, schrie der Junge. »Sie ist nicht tot.« Ich machte ein gefaßtes Gesicht und kniete mich zu ihnen in den Sand. Ich legte Toms Freund mitfühlend die Hand auf die Schulter.
    »Ich will dir was sagen«, sagte ich

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