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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Hand.
    »Also gut«, sagte sie, »wenn du wirklich willst, dann lese ich es.« Sie sprach wie mit einem Kind, das kurz vor den Tränen ist. Ich ärgerte mich. Ich sagte, »Lies es nicht einfach nur mir zuliebe«, und wollte es ihr wieder wegnehmen. Sie hielt das Buch so, daß ich es nicht erreichen konnte.
    »Nein, nein«, sagte sie durch ein Lächeln hindurch, »natürlich nicht.« Ich griff nach ihrem Handgelenk und bog es nach hinten. Julie überführte das Buch in die andere Hand und schob es sich unter den Hintern. »Du tust mir weh.«
    »Gib’s wieder her«, sagte ich, »es ist nicht deine Art von Buch.« Ich zog sie zur Seite, so daß das Buch offen dalag. Sie überließ es mir ohne weiteren Kampf, und ich trug es in die andere Zimmerecke. Julie starrte mich an und rieb sich das Handgelenk.
    »Was ist denn mit dir los?« sagte sie fast flüsternd. »Du gehörst hinter Schloß und Riegel.« Ich nahm keine Notiz von ihr und setzte mich.
    Lange Zeit saßen wir schweigend auf den gegenüberliegenden Seiten des Zimmers. Julie zündete sich eine zweite Zigarette an, und ich sah mir manche Abschnitte in meinem Buch an. Meine Augen bewegten sich die Druckzeilen entlang, aber ich nahm nichts auf. Ich wollte Julie etwas Versöhnliches sagen, bevor ich aus dem Zimmer ging. Aber mir fiel nichts ein, was nicht dumm geklungen hätte. Und außerdem, sagte ich mir, hatte sie es sich selbst zuzuschreiben. Am Tag zuvor hatte ich Tom zum Weinen gebracht, indem ich ihm mit dem Fingernagel gegen den Kopf schnippte. Er hatte vor meiner Zimmertür Krach gemacht und mich aufgeweckt. Er lag auf dem Boden, hielt den Kopf umklammert und schrie so laut, daß Sue aus ihrem Zimmer gerannt kam.
    »Er ist selber schuld«, sagte ich, »wenn er in aller Frühe einen solchen Lärm macht.«
    »In aller Frühe!« sagte sie laut über Toms Schreie hinweg. »Es ist fast eins.«
    »Also für mich ist das immer noch in aller Frühe«, rief ich und ging wieder ins Bett.
    Für mich hatte Aufstehen keinen großen Sinn. Das Essen war nicht sonderlich interessant, und ich hatte als einziger nichts zu tun. Tom spielte den ganzen Tag draußen, Sue las in ihrem Zimmer oder schrieb etwas in ihr Notizbuch, und Julie ging mit ihrem unbekannten Stiefelverehrer aus. Und wenn sie nicht fort war, machte sie sich dafür zurecht. Sie nahm lange Bäder, die das Haus mit einem süßen Geruch erfüllten, der stärker war als der Küchenmief. Sie verwandte viel Zeit darauf, sich die Haare zu waschen und zu bürsten, und stellte alles mögliche mit ihren Augen an. Sie trug Kleider, die ich nie gesehen hatte, eine Seidenbluse und einen braunen Samtrock. Ich wachte am späten Morgen auf, onanierte und glitt wieder in den Schlaf. Ich hatte schlechte, wenn auch nicht gerade Alpträume, aus denen ich mich ans Wachsein durchkämpfte. Ich gab meine zwei Pfund für Fish-and-Chips aus, und wenn ich von Julie dann noch mehr haben wollte, gab sie mir wortlos einen Fünfer. Tagsüber hörte ich Radio. Ich überlegte mir, im Spätsommer wieder zur Schule zu gehen, und dann wieder, mir einen Job zu suchen. Beides zog mich nicht an. Nachmittags schlief ich manchmal im Sessel ein, obwohl ich erst ein paar Stunden wach gewesen war. Ich sah im Spiegel, wie sich die Pickel vom Gesicht seitlich über den Hals ausbreiteten. Ich fragte mich, ob sie schließlich meinen ganzen Körper bedecken würden, und auch das wäre mir ziemlich gleich gewesen.
    Schließlich räusperte sich Julie und sagte, »Und jetzt?« Ich schaute an ihr vorbei zur Küchentür.
    »Wir räumen die Küche auf«, sagte ich unvermittelt. Das war genau der richtige Satz. Julie stand sofort auf und äffte einen Kinogangster nach, dem die Zigarettenkippe aus dem Mundwinkel baumelte.
    »Jetzt kommen wir zur Sache, Mann, wirklich zur Sache.« Sie streckte mir die Hand hin und zog mich aus dem Stuhl.
    »Ich hole Sue«, sagte ich, aber Julie schüttelte den Kopf. Sie hielt sich eine nichtvorhandene MP an die Hüfte, sprang in die
    Küche und schoß das Ganze in Stücke, die verschimmelten Teller, die Mücken und Schmeißfliegen, den riesigen Müllstapel, der umgefallen war und sich über den Boden verteilt hatte. Julie mähte das alles nieder mit denselben Stottergeräuschen hinten aus der Kehle, wie sie Tom bei seinen Schießspielen gebrauchte.
    Ich stand da und überlegte, ob ich dabei mitmachen sollte. Julie wirbelte herum und pumpte mir den Bauch voll Blei. Ich brach zu ihren Füßen auf dem Boden zusammen, ein

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