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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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von uns sie zuletzt benutzt hatte, aber ich hatte jetzt keine klare Erinnerung mehr an den Ablauf der Dinge. Ich hob die Schaufel auf und lehnte sie an die Wand. Der Kistendeckel stand offen, so wie wir ihn verlassen hatten. Das wußte ich noch. Ich fuhr mit der Hand über den Zement in der Kiste. Es war ein sehr helles Grau und fühlte sich warm an. Feiner Staub setzte sich auf meiner Hand fest. Ich bemerkte, daß quer über die Oberfläche ein feiner Riß verlief, der sich am Ende gabelte. Ich kniete mich hin, hielt die Nase daran und schnüffelte. Da war ein sehr deutlicher süßer Geruch, aber als ich aufstand, wurde mir klar, daß ich den Eintopf von oben gerochen hatte. Ich setzte mich auf einen Hocker neben der Kiste und dachte an meine Mutter. Ich versuchte angestrengt, mir in der Vorstellung ein Bild von ihrem Gesicht zu machen. Der ovale Umriß eines Gesichts war da, aber die Züge innerhalb dieser Form standen nicht still, oder sie lösten sich ineinander auf, und aus dem Oval wurde eine Glühbirne. Wenn ich die Augen schloß, sah ich tatsächlich eine Glühbirne. Einmal erschien kurz das Gesicht meiner Mutter, vom Oval umrahmt und mit einem unnatürlichen Lächeln, wie sie es für Schnappschüsse aufsetzte. Ich dachte mir Sätze aus und wollte sie sie sagen lassen. Aber ich konnte mir nichts aus ihrem Munde vorstellen. Die einfachsten Sachen wie, »Gib mir das Buch herüber« oder »Gute Nacht« klangen nicht wie etwas, was sie hätte sagen können. Hatte sie eine tiefe oder hohe Stimme? Hatte sie jemals einen Witz gemacht? Sie war seit weniger als einem Monat tot und lag in der Kiste neben mir. Nicht einmal das war gewiß. Ich wollte nachsehen und sie ausgraben.
    Ich fuhr mit dem Fingernagel den feinen Sprung entlang. Es war mir jetzt überhaupt nicht mehr klar, warum wir sie in die Kiste getan hatten. Damals war das klar gewesen: um die Familie zusammenzuhalten. War das ein guter Grund? Es wäre vielleicht interessanter, getrennt zu leben. Ich konnte auch nicht mehr herausfinden, ob wir etwas Gewöhnliches getan hatten, etwas Verständliches, auch wenn es ein Fehler gewesen war, oder ob es etwas so Sonderbares war, daß es bei seiner Entdeckung zur Schlagzeile im ganzen Land würde. Oder keins von alledem, etwas unten in den Lokalnachrichten, an das man sich später nicht mehr erinnern konnte. Wie das Bild von ihrem Gesicht, löste sich auch jeder meiner Gedanken in nichts auf.
    Die Unmöglichkeit, irgendetwas sicher zu wissen oder zu fühlen, erzeugte in mir einen starken Drang zu onanieren. Ich steckte die Hände in die Hose, aber als ich hinuntersah zwischen meine Beine, sah ich dort etwas Rotes. Ich sprang erstaunt auf. Der Hocker, auf dem ich gesessen hatte, war hellrot. Er war vor langer Zeit von meinem Vater gestrichen worden und gehörte ins untere Bad. Julie oder Sue mußten ihn heruntergetragen haben, um sich neben die Kiste zu setzen. Aber anstatt mich zu beruhigen, machte mir dieser Gedanke Angst. Über Mutter sprachen wir fast gar nicht miteinander. Sie war jedermanns Geheimnis. Sogar Tom erwähnte sie selten und weinte ihr nur noch gelegentlich nach. Ich sah mich im Keller nach anderen Spuren um, fand aber keine. Ich wandte mich zum Gehen und als ich unten die Treppe hinaufstieg, sah ich oben Sue stehen und mir zuschauen.
    »Ich dachte mir schon, daß du das warst da unten«, sagte sie, als ich oben bei ihr ankam. Sie hatte einen Teller in der Hand.
    Ich sagte, »Es hat einen Sprung, hast du gesehen?«
    »Er wird breiter«, sagte sie schnell, »aber weißt du was?« Ich zuckte die Achseln. »Es kommt jemand zum Tee.« Ich drängte an ihr vorbei in die Küche, aber dort war niemand. Sue machte das Kellerlicht aus und schloß die Tür zu.
    »Wer?« Ich sah jetzt, daß Sue sehr aufgeregt war.
    »Derek«, sagte sie. »Der Typ von Julie.« Im Wohnzimmer sah ich ihr zu, wie sie den zusätzlichen Teller deckte. Sie führte mich zum Fuß der Treppe, deutete nach oben und flüsterte, »Hör mal.« Ich hörte Julies Stimme und dann, darauf antwortend, die eines Mannes. Auf einmal sprachen alle zwei zugleich und lachten beide.
    »Na und?« sagte ich zu Sue. »Was soll denn da dabei sein?« Mein Herz raste. Ich legte mich quer auf einen Sessel und begann zu pfeifen. Sue setzte sich auch dazu und wischte sich unsichtbaren Schweiß von der Stirn. »Ein Glück, daß wir aufgeräumt haben, wie?« Ich pfiff weiter, suchte mir dabei in einer Art Panik zufällige Töne aus, und kam erst allmählich in eine

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