Der zerbrochene Himmel
Gewehre.«
»Nein«, sagte die Cousine lachend, »du hast drei.«
»Drei? Und wo ist das dritte?«
»Das hast du hier«, sagte Marietta, nahm das Vögelchen in die Hand und ließ es nach links und rechts klatschen.
Jetzt mußte Michilino lachen.
»Aber der schießt doch nicht!«
»Und ob, und ob!« sagte Marietta.
Aber auch diese Nacht wollte sie nicht mit Michilino reden.
»Entschuldige, aber ich hab' starke Kopfschmerzen«, sagte Signorina Pancucci. »Und ich hab' wohl auch ein paar Grad Fieber. Geh nach Hause, morgen holen wir alles nach.«
Heilige Madonna, was für ein Glück! Er sprang die Treppen hinunter und ließ dabei immer eine Stufe aus, und wie der Blitz schoß er nach Hause. Die Tür war zu. Er klopfte und klopfte, aber niemand kam, um aufzumachen. Geduld, er mußte unbedingt das tun, woran er morgens schon gedacht hatte. Er eilte in die Kirche. Ganz sicher würde Padre Burruano ihm die Wahrheit über Mamàs Krankheit sagen. Er betrat die Sakristei, dort war niemand. Vor einem Beichtstuhl warteten zwei alte Frauen, daß die Reihe an ihnen war. Eine dritte beichtete gerade. Er ging zu einer von ihnen.
»Entschuldigen Sie mich, bitte, wer nimmt hier die Beichte ab?«
»Padre Jacolino.«
»Ist Padre Burruano nicht da?«
»Nein, der ist ins Spital gebracht worden.«
»Ins Spital? Wann denn das?«
»Vorgestern abend.«
»Und warum? Was für eine Krankheit hat er denn?«
»Gar keine. Er scheint auf der Straße gestürzt zu sein und hat sich den Kopf verletzt, den rechten Arm und auch ein paar Rippen gebrochen.«
»Dem haben sie richtig zugesetzt!« sagte die andere alte Frau. »Aber früher oder später mußte es ja so kommen.«
»Was meint Ihr damit?« fragte die erste alte Frau empört.
»Erklärt das genauer, sprecht deutlich!«
»Oh ja, das erkläre ich Euch genauer, Gevatterin. Padre Burruano ist auf frischer Tat ertappt worden, während er neben das Pinkelbecken pißte!«
Die erste alte Frau schien wie von der Tarantel gestochen.
»Padre Burruano ist ein heiliger Mann! Das sind Verleumdungen bösartiger Menschen, die uns hassen!«
Michilino ging traurig weg, er hatte nichts von dem verstanden, was die beiden Frauen gesagt hatten.
Abends, nachdem Marietta ihn ausgezogen hatte, legte er sich hin und drehte sich zur Wand. Er fühlte da, wo sein Bauch war, ein großes Loch, und er hatte eine Last, einen Stein auf der Brust, der ihn fast daran hinderte zu atmen. Er hatte Tränen in den Augen, dann löste sich die Last auf der Brust in wildes, schmerzhaftes Schluchzen auf. Marietta fuhr im Bett hoch, faßte ihn an einer Schulter und zwang ihn, sich zu ihr zu drehen.
»Warum weinst du? Heh? Was ist los?«
Sie war im Schlüpfer und hatte sich den Büstenhalter ausgezogen, aber nicht rechtzeitig das Nachthemd überziehen können.
»Sag mir schon, Michilino. Was ist los?«
Wie konnte er ihr erklären, daß er ganz plötzlich die Überzeugung gewonnen hatte, bei ihm zu Hause wäre irgend etwas passiert, und daß dieses Etwas sein früheres Leben verändern würde. Nichts mehr würde so sein, wie es war.
»Ich will nicht mehr hierbleiben! Ich will zu Mamà! Ich will zu Papà! Morgen lauf ich weg und kehr zu mir nach Hause zurück!«
»Lieber, guter Michilino, meine Seele, mein Herz.«
Michilinos Weinen wurde stärker, da nahm die Cousine ihn in die Arme, legt ihn auf sich und besänftigte sein Schluchzen, indem sie seinen Kopf dicht zwischen ihre Brüste hielt. Ganz allmählich beruhigte Michilino sich.
Um halb vier nach dem Mittagessen, als Michilino sich bereit
machte, zum Unterricht zu gehen, klopfte es. Marietta ging öffnen, und Papà erschien. Als Michilino ihn sah, wurde er so von Gefühlen überrannt, daß er, statt ihm entgegenzulaufen und ihn zu umarmen, in Mariettas Zimmer verschwand. Doch Papà lief ihm hinterher, packte ihn, drückte ihn fest und küßte ihn.
»Hast du jetzt etwa vor mir Angst?«
Michilino schämte sich und antwortete nicht.
»Ich habe dir in Palermo ein Geschenk gekauft«, sagte Papà. »Ich hab's dir nicht eher bringen können, ich hatte so viel zu tun.«
Und er gab ihm ein Buch, dessen Titel Cuore war , Herz, über das der Junge schon reden gehört hatte und das er deshalb lesen wollte. Und auf der Stelle begriff er, als er sah, wie sein Vater Tante Ciccina und Marietta umarmte, daß die Fröhlichkeit, die er zeigte, nicht echt war. Er versuchte, irgend etwas zu verbergen. Und in diesem
Weitere Kostenlose Bücher