Der zerbrochene Himmel
die Küche und bereitete das Essen vor.
»Deck du inzwischen den Tisch, nur für uns beide, dein Vater kommt nicht zum Essen, er kommt heute abend.«
Diese Nachricht bereitete Michilino sowohl Vergnügen als auch Mißvergnügen. Vergnügen, weil er mit der Cousine alleine war, und Mißvergnügen, weil, wenn Papà dagewesen wäre, er ganz sicher etwas über Mamà herausbekommen hätte.
Sie waren bei der Hauptspeise, als Michilino sagte: »So mit dir zusammen zu sein ist, wie wenn wir miteinander verheiratet wären.«
Als Antwort hatte er eigentlich ein Lachen erwartet, doch Marietta schob plötzlich den Teller von sich, streckte die Arme auf dem Tisch aus, stützte die Stirn auf und fing an zu weinen.
»Bist du beleidigt? Was hab' ich dir denn gesagt?« fragte Michilino besorgt und stand auf, ging zur Cousine und streichelte ihr übers Haar.
»Was ist mit dir passiert, Mariè? Sag's mir doch.«
»Ich dachte an Balduzzo«, sagte Marietta zwischen ihren Schluchzern. »Ich dachte an meinen Balduzzo, ich dachte daran, daß, wenn wir hätten heiraten können, ich das Essen für ihn bereiten würde, wie ich's für dich gemacht habe, und danach hätten wir uns zusammen hingelegt und uns eng umschlungen gehalten … Was für ein gehörnter Ochse, dieser Mussolini! Er hat meinen Verlobten in den Tod geschickt!«
Michilinos erster Impuls war, einen Teller zu nehmen und ihn auf ihrem Kopf zu zertrümmern. Dann dachte er aber, daß der Schmerz sie so reden ließ, streichelte sie weiter und überredete sie, wieder zu essen. So wie Mariettas schlechte Laune gekommen war, verschwand sie auch wieder, so daß sie schließlich sogar sagte: »Weißt du, wie das Radio funktioniert?«
»Natürlich.«
»Dann laß mich mal hören. Ich hätte große Lust auf ein Radio. Aber mein Vater sagt, er hätte das Geld nicht, eins zu kaufen.«
Michilino schaltete es ein, und sie hörten sich Canzonetten an.
Abends kam Papà zum Essen, aber er blickte so finster und düster vor sich hin, daß Michilino es nicht wagte, ihm etwas zu sagen. Das Hauptgericht aß er nicht einmal auf.
»War es nicht gut?« fragte Marietta.
»Nein, es war gut, entschuldige, Mariè, aber ich habe so viele Sorgen, so viele Probleme, daß ich nicht weiß, wo ich mit ihnen überhaupt anfangen soll.«
Ohne ein Wort zu sagen, legte Marietta ihre rechte Hand auf Papàs linke Hand und hielt sie ein bißchen. Papà sah ihr in die Augen.
»Danke.«
Dann sagte er, er müsse noch einmal fort und würde spät wiederkommen, sie könnten schlafen gehen, ohne auf ihn zu warten. Er küßte Michilino und ging. Marietta ließ sich das Radio einschalten, Michilino griff zum Buch Cuore und fing an zu lesen. Er hatte so etwas wie eine Gewohnheit, wenn er ein neues Buch las: Er blätterte darin herum, las irgendwelche beliebigen Zeilen, übersprang Seiten, blätterte wieder zurück. Und so kam es, daß sein Blick auf den Anfang einer Erzählung fiel, die »Von den Apenninen zu den Anden« hieß: Vor vielen Jahren fuhr ein dreizehnjähriger Genueserjunge, Sohn eines Arbeiters, von Genua nach Amerika, ganz alleine, um seine Mutter zu suchen.
Wie verzaubert las er die Geschichte dieses kleinen Jungen weiter, der Marco hieß. Er las hastig, denn er hatte Angst, Marietta könnte sagen, es sei Zeit, schlafen zu gehen. Glücklicherweise war die Cousine ganz im Radio verloren, drehte ständig an dem Knopf und war bereit, einem Menschen zuzuhören, der eine Viertelstunde lang eine unbekannte Sprache aus einem Land sprach, von dem man nicht einmal wußte, welches es war.
»Wie redet der denn?« fragte sie sich und hörte ihm weiter zu.
Als Michilino an die Stelle gekommen war, wo der Kapitän eines Dampfflügelbootes Marcos Vater eine kostenlose Fahrkarte zu seinem Sohn besorgte, schaltete Marietta das Radio aus.
»Es ist spät geworden. Geh ins Bad und wasch dich.«
»Kann ich noch bleiben und ein bißchen weiterlesen?«
»Nein.«
»Kann ich's mit zu Bett nehmen?«
»Um da weiterzulesen?«
»Sicher.«
»Nein, im Bett wird nicht gelesen, das ist nicht gut für die Augen.«
Folgsam machte Michilino das Buch zu.
Sie legten sich in der inzwischen zur Gewohnheit gewordenen Stellung hin, Michilino angeklebt an den nackten Rücken der Cousine. Diesmal hatte der Kleine Lust, etwas zu tun, was Mamà ihm manchmal erlaubte. Er hob die rechte Hand und legte sie auf eine Brust der Cousine. Das Mädchen versetzte ihm einen Schlag.
»Nimm die
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