Der zerbrochene Himmel
sagen?« fragte Michilino beleidigt.
»Michilì, Tatsache ist, daß deine Mutter sich nicht wohl gefühlt hat, gleich nachdem du zum Unterricht gegangen bist. Nichts weiter Schlimmes. Aber weil sie doch, das weißt du, guter Hoffnung ist, hatte sie ein bißchen Angst bekommen. Dein Vater ist in Palermo, sie war alleine, sie hatte niemand, der sich um sie kümmern konnte. Da hat sie ihre Mutter und ihren Vater rufen lassen, die sie mit zu sich genommen haben. Das ist alles. Sobald sie sich wieder besser fühlt, kommt sie zurück.«
»Aber wenn Papà heute nacht von Palermo zurückkommt und keinen von uns findet, wird er sich Sorgen machen!«
»Wir haben ihn benachrichtigt, mach dir keine Gedanken.«
Nach dem Essen nahmen es alle als selbstverständlich an, daß Michilino mit Marietta im selben Bett schlafen würde. Während die Cousine ihn auszog, sah Michilino sie an. Nein, es war nicht bloß ein Eindruck, als er sie auf Mamàs Geburtstagsfest gesehen hatte: Marietta war wirklich viel schöner geworden, es sah aus, als hätte sie längere Beine bekommen und als wäre die Taille enger geworden. Und auch ihr Blick hatte sich verändert: Ihre Augen waren wie ein Brunnen ohne Ende, und ihre Lippen waren größer und roter, so daß sie keinen Lippenstift brauchte. Ihre Haare waren ein Meer. Auch Marietta verharrte einen Augenblick, als er nackt vor ihr stand, betrachtete ihn und strich ihm mit der Hand über die Schenkel.
»Du bist gewachsen«, sagte sie mit einem Seufzer.
Ihr Gesicht war ernst und melancholisch.
»Denkst du an Balduzzo?« fragte Michilino.
»An Balduzzo und an vieles andere«, erwiderte Marietta und strich ihm dabei weiter über die Schenkel.
Sie legten sich hin. Und wie es immer wieder in rutschigen Bettlaken vorkommt, schoben sich die beiden Nachthemden, das von Marietta und das von Michilino, fast bis zum Bauch hinauf. Michilino preßte seinen ganzen Körper an Mariettas Rücken, und Marietta machte eine Bewegung, als wollte sie Michilinos Haut fester an ihre eigene kleben.
»Können wir miteinander reden?« fragte der Junge.
»Nein, ich fühle mich müde. Gute Nacht.«
Michilino suchte auf dem Boden des kleinen Koffers nach, fand aber weder den Tornister noch alles andere, was er für den Unterricht brauchte. Die Via Berta, wo die Lehrerin, Signorina Pancucci wohnte, war von Onkel Stefanos Wohnung genauso weit entfernt wie von seinem Haus.
»Mamà hat vergessen, meine Schulsachen in den Koffer zu stecken.«
»Das bedeutet, daß wir es Stefano sagen, wenn er vom Einkaufen wiederkommt, er geht sie dann für dich holen, denn er hat die Schlüssel«, sagte Tante Ciccina.
»Kann ich mit ihm zu mir nach Hause gehen?«
Die Tante wirkte verblüfft.
»Was willst du denn da? Fehlt dir irgendwas? Dann sagst du es Stefano, der nimmt es und bringt es dir. Dein Gewehr und deine Uniform sind sowieso schon hier, daher bist du eigentlich komplett. Also, was fehlt dir sonst noch?«
In Wirklichkeit hatte Michilino Sehnsucht nach seinem Zuhause. Es ist eine Sache, ein Haus nach und nach zu verlassen, weil du weißt, daß du es verlassen mußt, und etwas ganz anderes ist es, wenn du es urplötzlich verlassen mußt, ohne Zeit zu haben, dich in die Tatsache zu fügen.
»Wißt ihr, ob Papà schon von Palermo zurück ist?« fragte er abends bei Tisch.
»Natürlich ist er zurück«, sagte Onkel Stefano.
»Und wieso kommt er dann den ganzen Tag über mich nicht besuchen?«
Onkel Stefano, Tante Ciccina und auch Marietta wechselten einen Blick, der Michilino nicht entging. Da war etwas, das an dieser ganzen Sache nicht stimmte. Dann sagte Onkel Stefano: »Dein Vater hatte heute viel zu tun. Auch morgen muß er arbeiten. Er wird dich besuchen, sobald er kann.«
»Habt ihr Nachrichten von Mamà?«
Wieder ein Tausch von Blicken.
»Heute morgen«, sagte Onkel Stefano, »habe ich deinen Nonno Aitano gesehen. Er hat mir gesagt, daß es Ernestina, deiner Mutter, besser geht und sie dir viele Küsse schickt. Sie hofft, daß die Familie bald wieder vereint sein wird.«
»Gott auch!« sagte Tante Ciccina mit bebenden Lippen.
Michilino erschrak. Warum hatte Tante Ciccina Lust bekommen zu weinen? Bedeutete das etwa, daß Mamà schwer krank war und sie es vor ihm verborgen halten wollten?
Während Marietta ihn auszog, fragte sie ihn: »Erklärst du mir mal, warum du immer mit dem Gewehr rumläufst?«
»Ich mag das. Und weißt du was? Ich hab zwei
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