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Der zerbrochene Himmel

Der zerbrochene Himmel

Titel: Der zerbrochene Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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nicht.«
    »Wieso?« fragte Papà.
    »Es scheint, daß sie ein kleiner Junge geschrieben hat.«
      Wie doch der Kopf des Teufels arbeitete! Michilino dachte darüber nach, wie er den Schlag abfangen könnte, doch Papà setzte ein erfahrenes Lächeln auf.
      »Nein, Mariè, das will uns der anonyme Schreiber nur glauben machen. Den Brief hat mit Sicherheit ein erwachsener Mann geschrieben, der seine Handschrift verstellt hat.«
      »Warum sagst du ein Mann, Papà?« fragte Michilino. »Es könnte doch auch eine Frau gewesen sein.«
    »Alles ist möglich«, sagte Papà mehr verwirrt als überzeugt.
    Am Morgen darauf wurde er nicht von der singenden Marietta geweckt, im Gegenteil, es herrschte Grabesstille. Vielleicht war Marietta weggegangen, um mit Papà gemeinsam frischen Fisch zu kaufen, denn von Fisch verstand Papà viel. Was für eine herrliche Ruhe! Er drehte sich auf die Seite, schloß die Augen und schlief fast augenblicklich wieder ein. Dann plötzlich ein Schlag, ein langer rollender Donner. Die Fensterscheiben schepperten. Was war los? Noch bevor er es mit dem Kopf begriffen hatte, hatte es sein Vögelchen schon verstanden, das auf der Stelle steif und hart wurde. Es war eine Rede Mussolinis in voller Lautstärke. Michilino stand auf, der Kopf des Vögelchens hielt das Nachthemd hoch, er stürzte ins Eßzimmer, um das Grammophon auszuschalten. Doch vor dem Apparat stand Marietta, mit wirrem Blick, mit einem zur Grimasse verzogenen Mund, mit einem Besen in der Hand, den sie vor Michilino hielt.
    »Wenn du näher kommst, zieh ich ihn dir über den Schädel!«
      Dann fing sie an zu lachen, ein Lachen, das sich anhörte wie das Geräusch eines Bohrers. Sie zeigte mit dem Finger auf den angehobenen Teil des Nachthemds.
      »Und was machst du jetzt mit deinem Mast da, du Scheißkerl? Brauchst du etwa meine Hilfe?«
      Michilino hielt sich die Ohren zu und lief zum Badezimmer, wo er sich einschloß. Er öffnete das Schränkchen, die Watte, die Mamà gebrauchte, wenn sie sich abschminkte, war noch da. Er stopfte sich zwei Kügelchen ins Ohr. Instinktiv packte die rechte Hand das Vögelchen, vielleicht gelang es ihm ja, sich selbst Ruhe zu verschaffen. Aber das war ja eine schlimme Todsünde! Was tat er denn da? Er konnte sich doch dem Teufel nicht geschlagen geben! Er fiel auf die Knie.
      »O lieber, heiliger Herr Jesus, errette mich aus diesem Augenblick des Übels. Eile herbei, barmherziger Herr Jesus, errette deinen Soldaten hier, der sich in großer Gefahr befindet!«
      Zuerst war es wie ein grauer feuchter Fleck an der Wand, dann erschienen verschwommene Farben, und nach und nach, langsam, ganz langsam bildete sich die Gestalt des Herrn Jesus am Kreuze heraus.
      »Blick auf mich, lieber Herr Jesus, und sag mir, was ich tun soll!«
      Der liebe Herr Jesus entschloß sich endlich, ihn anzublicken, sein Auge war wie nebelgetrübt.
    »Leiden«, sagte er.
      Und verschwand unversehens. Aber es war ausreichend, daß Michilino verstand. Das kleine Fenster des Badezimmers stand offen. Michilino legte die linke Hand auf den Holzrahmen und klemmte mit einem gewaltigen Schlag des Fensterflügels die Finger ein. Der Schlag war fürchterlich, der Schmerz stechend, und er spürte, wie er durch seinen ganzen Körper fuhr. Er zog den Fensterflügel wieder nach hinten und schlug noch einmal zu. Diesmal hielt er es nicht durch, er schrie, stürzte zu Boden und krümmte sich. Aber er spürte, daß er gewonnen hatte. Die Hand schwoll vor seinen Augen an. Sie sah aus wie ein eben aus dem Backofen gekommenes weiches Brot. Er hatte gewonnen! Jetzt hing das Nachthemd ganz normal an ihm herunter. Die Finger hielt er unter kaltes Wasser.

    Eines Nachts wachte er schweißgebadet auf, weil er einen schrecklichen Traum gehabt hatte. Er hatte geträumt, daß er schlief und aufwachte, ohne Marietta an seiner Seite zu finden. Er stand auf, während die Uhr halb vier schlug, und, ohne sich die Pantoffeln anzuziehen und auch ohne überhaupt zu wissen, wieso, fing er an, durch das ganze Haus zu streifen, in dem überall das Licht gelöscht war. Im Korridor bemerkte er, daß die Wohnzimmertür nicht gut verschlossen war, denn ein Lichtspalt fiel durch die Öffnung. Vorsichtig stellte er sich daneben, er wollte unbedingt entdecken, was Marietta um diese Uhrzeit im Wohnzimmer tat. Er näherte sich mit dem Gesicht der Tür und sah hinein. Da war Papà, der in einem Sessel saß. Die Rückenlehne stand zur Tür, weshalb er

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