Der zerbrochene Kelch
auf der Hafenmole zu ihm ins Auto stieg.
Wortlos saßen sie nebeneinander, während Delvaux den Wagen durch die schmalen Straßen von Galaxidi fuhr. Zum Glück war der Weg zur Hauptstraße nur kurz, und so waren sie schon nach einer Viertelstunde aus der Stadt heraus und wieder auf der Nationalstraße in Richtung Delphi.
Karen schwieg beinahe die ganze Autofahrt über, während Delvaux versuchte sie von ihren Gedanken abzulenken und in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie antwortete nur kurz oder überhaupt nicht. Meistens starrte sie benommen nach draußen.
»Das Erdbeben war wirklich nicht schlimm«, meinte Delvaux. »Fast alle Häuser sind stehen geblieben.«
»Fast alle«, sagte Karen leise. »Aber nicht das von Yiorgos.«
Delvaux knetete ungeduldig das Lenkrad. »Die Leute leben hier mit den Erdbeben. Es ist für sie völlig normal. Yiorgos wird seinen Laden schon wieder aufbauen, da bin ich mir sicher.«
Kurze Zeit später bog der Opel in Delphi auf die schmale Sandpiste zum Camp ab und hielt vor Karens Hütte.
»Vielen Dank für den Abend«, sagte Karen mechanisch, ohne über die Worte nachzudenken, und wollte aus dem Wagen steigen, aber Delvaux hielt sie am linken Handgelenk fest.
»Sind Sie in Ordnung, oder soll ich noch kurz mit reinkommen?«
In seiner Stimme klang echte Besorgnis, aber Karen war viel zu müde von diesem Tag und schüttelte nur den Kopf. Delvaux ließ daraufhin ihr Handgelenk los und sah ihr nach, wie sie, ohne sich umzudrehen, in die Hütte ging.
»Verdammt«, fluchte Delvaux und schlug mit der Faust auf das Lenkrad, ehe er die wenigen Meter zu seiner Hütte fuhr und den Abend allein verbringen musste.
8
Kaum hatte Karen die Tür hinter sich geschlossen, als ihre Beine nachzugeben drohten. Schnell taumelte sie zu einem der alten Cocktail-Sessel und ließ sich hineinfallen. Zwei Gefühle kämpften in ihrem Inneren, einerseits die Angst, noch mal so ein unheimliches Erdbeben erleben zu müssen, und andererseits vermisste sie Michael.
Erst jetzt wurde ihr wieder bewusst, wie sicher sie sich fühlte, wenn er bei ihr war. Das Erdbeben hätte sie nicht halb so verstört, wenn sie es mit ihm zusammen erlebt hätte.
Michael.
Sie musste ihn anrufen. Sofort. Sie musste mit ihm reden, seine Stimme hören. Er würde sie trösten.
Wo war ihr Handy? Nach kurzer Suche fand sie es in ihren Shorts und drückte eine bestimmte Kurzwahltaste. Es dauerte einige Zeit, bis das mobile Telefon in den Bergen einen guten Empfang bekam und sich in das griechische Funknetz eingewählt hatte, doch schließlich kam die Verbindung nach New York zustande.
Siebentausend Kilometer entfernt klingelte ein anderes Handy. Ein Mann stutzte, dann griff er mit seiner fleischigen Hand danach und betrachtete auf dem Display den Namen der Anruferin. Das Handy klingelte laut und fordernd, aber der Mann zögerte. Dann drückte er eine Taste und beendete die Verbindung, ohne das Gespräch angenommen zu haben.
Es war nicht Michael.
Karen guckte irritiert auf das Telefon in ihrer Hand. Michael hatte den Anruf abgewiesen. Merkwürdig. Aber vielleicht hatte er gerade keine Zeit, weil er in einem Außeneinsatz war?
Wie auch immer, er wusste nun, dass sie versucht hatte, ihn zu erreichen, und sie war sich sicher, dass er zurückrufen würde, sobald er Zeit für sie hätte. Aber konnte sie so lange darauf warten? Ihr fielen allmählich die Augen zu. Sie hatte zwei Stunden im Flugzeug gesessen und außerdem ein Erdbeben erlebt. Für den ersten Tag ihrer Reise reichte es.
Sie wartete noch eine halbe Stunde, doch als Michael immer noch nicht angerufen hatte, ging sie nach einem kurzen Abstecher ins Badezimmer ins Bett. Auf dem Nachttisch hatte sie das Foto von ihm stehen, das sie jetzt in die Hand nahm und liebevoll mit dem Zeigefinger über seine Nase und sein Kinn strich. Du fehlst mir, Darling, dachte sie und warf einen langen Blick auf das Bild. Wo bist du gerade, Michael, dass du nicht mit mir telefonieren wolltest?
9
Mansfield saß mit gefesselten Händen und einer übergestülpten Sturmmaske auf dem Beifahrersitz eines alten Chryslers und blutete aus einer Beinwunde. Neben ihm saß der Mann, der ihn ermorden würde. Er fuhr den Wagen entlang dem Hudson River. Mansfield war am linken Oberschenkel angeschossen. An Flucht war nicht zu denken. Er würde keine hundert Meter weit kommen. Es war vorbei. Er war am Ende. Er wusste es und hatte nur noch einen Gedanken: Wie und wo würde er sterben?
»Bringen Sie mich zum
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