Der zerbrochene Kelch
Delphi warf. Plötzlich bildete sich eine kleine Längsfalte zwischen ihren Augenbrauen.
»Was ist eigentlich mit Nikos?«
Delvaux nahm gerade genüsslich einen Schluck nemeischen Rotwein, als ihre Frage ihn überraschte.
»Wieso? Was soll mit ihm sein?«
»Ist er Ihr Freund? Er schien ein wenig beleidigt zu sein, dass Sie heute ohne ihn nach Athen gefahren sind.«
Delvaux grinste. »Ich kenne ihn erst seit zwei Monaten, seit wir in Delphi ankamen und mit den Ausgrabungen begannen. Er ist ein netter Kerl, aber voller Komplexe wegen seines Klumpfußes. Dabei behindert er ihn nicht im Geringsten bei seinem Museumsjob, und auch nicht, bei unseren Ausgrabungen mitzuarbeiten. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, ihm helfen zu müssen, obwohl er die Hilfe eigentlich gar nicht haben will und sie manchmal vielleicht auch gar nicht braucht. Es ist nicht immer einfach mit ihm. Im Dorf ist er ein Außenseiter. Sie sind wohl nie freundlich zu ihm gewesen, und auch mit den jungen Frauen hat er nicht viel Glück. Außer Selena, der Tochter der Pythia, hat er keine richtige Freundin.«
Karen bemerkte Simons geschickten Hinweis, dass Nikos schon vergeben war, und fragte genauso beiläufig: »Selena, Tochter der Pythia?«
»Haben Sie Theophora noch nicht kennengelernt? Sie wohnt mit ihrer Tochter in dem weißen Häuschen über uns an der Straße zum alten Stadion.«
Karen schüttelte den Kopf. »Nein, ich kenne weder Selena noch ihre Mutter. Warum nennt man sie Pythia?«
»Na ja, weil die Dorfbewohner glauben, dass sie wahrsagen kann. Sie besuchen sie in ihrem Haus und bitten sie um Rat.«
Karen war verblüfft. »Wie zu Zeiten des alten Orakels?«
»Ja, so ähnlich. Nur dass sie nicht in einem marmornen Tempel herumzaubert, sondern in ihrem kleinen baufälligen Haus. Aber von irgendetwas muss sie ja leben.
Genauso wie Nikos, der sich mit Hilfsjobs über Wasser hält. Er kennt sich übrigens sehr gut mit den delphischen Legenden aus und ist ein perfekter Führer durchs Museum. Besser als ich, muss ich gestehen, aber er ist auch hier aufgewachsen, während mein Interesse an Delphi erst vor zehn Jahren begann.«
»Als Ihr Ururgroßvater starb?«
»Nein, der starb natürlich schon früher. Genau genommen 1906. Aber vor zehn Jahren starb mein Vater, und so kam ich in den Besitz der alten Aufzeichnungen von Androuet.«
Karen richtete ihren Blick wieder hinüber zum Südosthang des Parnass, an dem Delphi lag. »Ist es nicht unheimlich, wie sehr die Natur diesen Ort zurückeroberte? Als ob sie sagen wollte: Er gehört mir, mir, mir und nicht euch Menschen.«
»Nein, ich finde das nicht unheimlich, denn jetzt sind wir wieder an der Reihe, der Natur diesen Platz abzuringen. Eintausendfünfhundert Jahre hat sich niemand um Delphi gekümmert, aber wir machen es wieder zum Nabel der Welt.«
Karen griff nach ihrem Weinglas. »Durch die Entdeckung eines Brunnenbeckens?«
Delvaux lachte ertappt. »Vielleicht sollte ich wie Schliemann einen Goldschatz dort vergraben und ihn zufällig ausbuddeln. Gold ist immer eine Sensation.«
»Aber bei den heutigen Altersbestimmungsmethoden würde man den Bluff spätestens nach einem halben Jahr bemerken, oder?«
»Früher, viel früher. Betrüger haben heutzutage keine Chance mehr.« Er hob sein Weinglas und hielt es ihr entgegen. »Trotzdem, auf die alten Griechen und auf dass wir ihre alten Geheimnisse nach zweitausendfünfhundert Jahren endlich lüften dürfen.«
Karen hob auch ihr Glas und wollte auf diesen speziellen Toast mit Simon anstoßen, doch noch bevor sich ihre Gläser über der Mitte des Tisches trafen, begann unter ihnen ein dunkles Grollen, und Karens Stuhl fing an zu wackeln. Mit Schrecken sah sie, wie die Salatschüsseln den Tischkanten entgegenrutschten und mit lautem Scheppern auf den gekachelten Boden fielen. Ihr Herz begann zu rasen, als sie merkte, dass das ganze Haus wie von einer mächtigen Hand geschüttelt wurde. Dachziegel schlugen mit lautem Krachen vor dem Fenster auf den Steinfliesen der Terrasse auf. Ein dreiarmiger Metall-Leuchter wippte bedenklich über ihrem Tisch hin und her, bis er mit einem ohrenbetäubenden Quietschen herunterfiel und Karens Kopf nur um Zentimeter verfehlte. Hinter Simons Rücken sah sie einen schnell wachsenden Riss in der Wand, der sich von unten her durch das Mauerwerk fraß.
Die Gäste fingen zu kreischen an und taumelten über umgestoßene Stühle und Tische nach draußen. Auch Delvaux hatte Karen schnell am Arm
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