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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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gepackt, sie nach draußen auf die Terrasse gezogen und war dann mit ihr noch ein Stück weiter zum Strand hinuntergelaufen. Erst nach fünfzig Metern hielten sie an und wagten einen Blick zurück zu dem Haus, in dem sie vor einer Minute noch gemütlich gesessen hatten.
    Unter ihren Füßen bebte immer noch die Erde, für Karen ein unerwartetes und unangenehmes Gefühl, das sie bisher noch nicht kannte.
    »Sind Sie okay?«, fragte Delvaux und warf Karen einen abschätzenden Blick zu.
    Karen nickte, obwohl ihr das Herz bis zum Hals pochte. Beide starrten sie auf das Schauspiel, das sich ihnen bot – in der kleinen Straße, die bis zum Strand hinunterführte, gab es kaum noch ein Dach, das gerade auf den Mauern lag. Überall sah man Risse in den Hauswänden und Fensterrahmen, die unter dem Gewicht der verschobenen Mauern nachgegeben hatten. Das Beben hatte inzwischen auf gehört, aber konnte man sicher sein, dass es nicht in einigen Minuten noch mal wiederkäme? Alle Menschen des Ortes waren aus den Häusern gestürmt. Manche hielten weinende Kinder auf den Armen und eilten zum Marktplatz, während andere ihre Großeltern stützend die Straße hinunterführten.
    Die ersten Krankenwagensirenen waren zu hören, doch kamen sie nicht auf Karen und Delvaux zu, sondern schienen sich eher von ihnen zu entfernen. Es hatte wohl andere Menschen schlimmer getroffen als sie in diesem Stadtteil. Tatsächlich sah Karen nur wenige verwundete Menschen. Die meisten hatten es wohl geschafft, rechtzeitig aus ihren Häusern rauszukommen, und manche hatten sogar schon wieder Kraft, ihren Unmut in den Abendhimmel hinauszuposaunen.
    Eine alte Frau, die die Straße hinuntergetragen wurde, keifte ihnen etwas entgegen und wedelte drohend mit einem alten Gehstock in ihre Richtung, was Karen leicht zurückzucken ließ. Ihr heiseres Kreischen klang wie eine Anklage.
    »Was hat sie gesagt?«
    »Weiß ich nicht. Die Griechen sind abergläubisch. Vermutlich keift sie, dass dieses Erdbeben eine Strafe Gottes sei oder so ähnlich«, antwortete Simon mit einem Schulterzucken. »Verrückte Alte. Griechenland liegt nun mal auf einer Schnittkante der Kontinentalplatten. Erdbeben sind hier normal.«
    Karen warf ihm einen beunruhigten Blick zu. »Aber dieses war ein bisschen stärker als sonst, oder?«
    »Vielleicht. Die Geologen werden uns morgen den genauen Wert auf der Richterskala nennen.«
    »Sie nehmen dieses Erdbeben ziemlich locker, Simon.«
    Delvaux zuckte erneut mit den Schultern. »Ich bin Wissenschaftler. Ich weiß, welches Risiko ich eingehe, wenn ich mich hier aufhalte.«
    Karen nickte mechanisch, während sie auf die zerrissenen Wände der Taverne zurückblickte, durch die jetzt mehrere Feuerzungen nach Nahrung lechzten. Wie hatte sie nur so naiv sein können? Sie hatte sich nicht die geringsten Gedanken über Erdbeben oder sonstige geologische oder klimatische Gefahren gemacht, als sie den Auftrag für das Delphi-Buch angenommen hatte.
    »Ich habe diesem Haus Unglück gebracht«, murmelte sie leise vor sich hin, doch Delvaux hatte ihre Worte gehört.
    »Unsinn. Sie bringen niemandem Unglück.«
    Karen deutete auf die Taverne. »Aber sehen Sie doch, die anderen Häuser stehen alle noch. Sie sind zwar krumm und schief, aber sie stehen noch. Nur diese Taverne geht in Flammen auf.«
    »Aber das liegt doch nicht an Ihnen, Karen. Völliger Blödsinn. Kommen Sie, ich fahre Sie nach Delphi zurück.«
    Karen nickte und ließ sich von Delvaux durch die aufgeregten Menschenmengen in den Straßen führen. Es war nicht leicht, bis zu seinem Opel durchzukommen, aber immerhin hatte er das Erdbeben unversehrt überstanden, während andere Menschen nicht so viel Glück gehabt hatten und ihre versunkenen Wagen im Hafenbecken betrachteten. Ein etwa sechs Meter langes Teilstück der Kaimauer war ins Meer abgerutscht und hatte mindestens drei Autos mit sich gerissen.
    Karen blickte benommen auf die fremden Menschen, die mit den Armen in der Luft herumfuchtelten und lautstark ihren Verlust diskutierten, während Delvaux seinen Opel aufschloss und einstieg. Sie merkte nicht, dass er den Wagen startete und darauf wartete, dass sie sich neben ihn setzte. Wie in Trance beobachtete sie die wütenden Männer und Frauen, die sich über den Verlust ihrer Autos beklagten.
    »Kommen Sie?«
    Delvaux hatte die Beifahrertür geöffnet und beugte sich zu Karen rüber, die nur langsam aus ihrer Erstarrung erwachte und dann schließlich nach einem letzten Blick auf die Menschen

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