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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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Schatzhaus. Schnell stieg sie über das niedrige Abgrenzungsseil und war nach wenigen Schritten am Eingang des kleinen Tempels. Sanft strich sie über den alten Marmor der dorischen Säulen.
    Angekommen.
    Delvaux warf ihr einen missbilligenden Blick zu und hoffte, dass kein Tourist in der Nähe war und beobachtete, das sie die Heilige Straße verlassen hatte. »Karen, bitte. Wenn das jeder der zehntausend Touristen machen würde, die hier täglich vorbeikommen, würde das Schatzhaus schon lange nicht mehr stehen.«
    Delvaux’ Worte zerbrachen den tiefen inneren Zauber, der zwischen ihr und dem Athener Schatzhaus zu bestehen schien, und nur widerwillig kehrte sie zu ihm auf die Straße zurück.
    »Entschuldigung, aber ich konnte nicht anders. Die Säulen riefen nach mir.«
    Diese Entgegnung ließ Delvaux’ Mundwinkel zucken, während er eine Mischung aus Verwirrung und ehrlicher Reue in ihren Augen bemerkte, ein Gesichtsausdruck, den er bei Frauen noch nie erlebt hatte und den er überaus sympathisch fand. Es gab ihr ein fast kindliches, unschuldiges Aussehen, das ihm gefiel.
    »Sie sollten das jedenfalls nicht so oft machen«, tadelte er sie milde. »Außerhalb der Heiligen Straße ist es nun mal unser Gebiet.«
    Sie wusste, dass er sich und seine Kollegen meinte, aber sie bereute es trotzdem nicht, zum Athener Schatzhaus gegangen zu sein. Sie hatte es einfach tun müssen.
    Gleich neben dem Schatzhaus deutete Delvaux auf ein dreieckiges Steinpodest.
    »Hier hatten die Athener ihre persische Kriegsbeute aus der Schlacht bei Marathon zur Schau gestellt.«
    Karen lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. »Die Perser«, murmelte sie und warf dem Podest einen schmerzvollen Blick zu, doch Delvaux führte sie schnell weiter und erzählte ihr viele Einzelheiten über die ehemaligen Schatzhäuser am Wegesrand, deren spärliche Fundamente jetzt im Frühjahr gegen frisches Gras und Unkraut ankämpfen mussten.
    Delvaux genoss Karens Aufmerksamkeit und ihr angespanntes Gesicht, wenn er weitere Details erzählte, die sie oft mit einem kurzen Nicken quittierte, doch manchmal beobachtete er auch, wie sie auf ihrer Unterlippe herumkaute, anscheinend, um eine unhöfliche Frage zu unterdrücken.
    Doch das reizte ihn nur noch mehr. »Warum sind Sie eigentlich nach Delphi gekommen, Karen? Sie hätten all diese Einzelheiten doch auch aus Büchern erfahren können.«
    Karen schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre nicht dasselbe gewesen. Fachbücher können mir zwar die Einzelheiten nennen, aber wenn ich vor diesen alten Säulen stehe, wenn ich sie anfassen kann und mir jemand ihre Geschichte erzählt, ist alles viel plastischer und realer. Diese Steine beginnen für mich zu leben. Sie fügen sich wieder zusammen, und ich sehe den Tempel vor meinen Augen. Es ist … es ist tausendmal schöner als reine Bücherrecherche, aber auch schmerzlich, denn der Tempel und die Schatzhäuser sahen damals so prächtig aus, und jedes war ein Kunstwerk größter griechischer Kultur. Der Stolz einer jeden Polis.«
    »Ach, alles nur ein eitler Wettkampf«, wehrte Delvaux ab.
    »Eitel?«
    »Aber natürlich. Ein einziger Laufsteg der Eitelkeiten. Jeder prahlte mit den geklauten Kunstgegenständen und versuchte die Besucher des Heiligtums zu beeindrucken. Siege, Ruhm und Eitelkeit. Was für eine Selbstdarstellung an einem Ort, an dem die Menschen nach Weisheit suchten.«
    »Das mag sein, aber ich sehe diese Marmorbauwerke eher als Wettkampf der Kunst. Genauso wie in den Sportarenen und im Amphitheater während der Pythischen Spiele, wenn die Teilnehmer mit Leier oder Kithara Gesänge vortrugen oder mit Schild und Helm im Stadion um die Wette liefen. Die Schatzhäuser standen auf heiligem Boden und waren so vor fremden Anfeindungen geschützt. Es war ein fairer Wettkampf der Baukunst.«
    Delvaux hob eine Augenbraue. »Fair … glauben Sie das wirklich? Und was ist mit den Weissagungen im Tempel? Ich denke schon, dass die Priester ab und zu einen politisch motivierten und manipulierten Spruch an bestimmte Stadtdelegierte weitergaben.«
    In Karens Innerem widersprach ein klarer Gedanke zutiefst Delvaux’ Ansicht, und sie hatte plötzlich das intensive Bedürfnis, die Pythia vor seinen Worten zu beschützen.
    »Zur Römerzeit vielleicht«, entgegnete sie, »aber nicht zur griechischen Zeit. Nein, die Priester waren nicht korrupt. Das glaube ich nicht, denn mit so einer menschlichen Schwäche hätte das Orakel niemals tausend Jahre überstehen können. Die

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