Der zerbrochene Kelch
die uns jetzt so gute Dienste leisten.«
»Fotos?« Karen strauchelte, doch dank Delvaux’ zupackendem Griff fing sie sich wieder.
»Ich besitze Fotos der allerersten Ausgrabung. Sie können sie sich gern bei mir anschauen, wenn Sie wollen.«
Karen lächelte ihm dankbar zu, während sie überlegte, ob sie sich die Fotos wirklich anschauen sollte. Sie hatte dabei ein ungutes Gefühl, aber andererseits konnten die Fotos für ihre Buchrecherche äußerst wichtig sein. Also gab sie sich einen Ruck und nickte.
»Morgen und übermorgen habe ich schon etwas vor, aber wie wäre es am Sonntagvormittag?«
»Ja, gern. Wann immer Sie wollen.«
Und da sie sich schon für die Ansicht der Fotos entschieden hatte, kam ihr noch ein weiterer Gedanke. »Steht denn nicht noch mehr in den Unterlagen Ihres Vorfahren? Warum haben Sie sie nicht veröffentlicht?«
Delvaux’ Gesicht verzog sich zu einem spitzbübischen Grinsen. »Das habe ich doch.«
Er deutete auf das weiße Taschenbuch, das Julius Karen in Hamburg gegeben hatte und das keck aus ihrem Rucksack hervorschaute. Sie zog das Buch heraus und las noch mal den Autorennamen, dem sie bisher keine besondere Beachtung geschenkt hatte – Simon Delvaux.
Sie fasste sich an den Kopf. »O nein … ich Idiot!«
Erst jetzt wurde ihr klar, warum ihr sein Name bei der Begrüßung auf dem Athener Flughafen so bekannt vorgekommen war.
»Entschuldigen Sie bitte …« Sie ließ die Seiten durch die Finger gleiten.
Delvaux bemerkte, dass das Buch noch sehr neu aussah. »Ich dachte, sie wollten nicht so viel aus Büchern recherchieren? Haben Sie es trotzdem schon gelesen? Ich sehe keine Notizen auf den Seiten und auch keine Markierungen.«
»Ehrlich gesagt habe ich es erst vor kurzem bekommen. Im Flugzeug habe ich darin gelesen, aber ich habe noch nicht viel geschafft.«
Delvaux schien einerseits froh und andererseits beleidigt zu sein. »Und dabei dachte ich schon die ganze Zeit, dass ich mir hier den Mund fusselig rede und Sie mir nur aus Höflichkeit zuhören.« Er drehte sich wieder um und führte sie auf einem schmalen Weg zur Nationalstraße hinauf. »Ich habe so das Gefühl, dass Ihr Buch ziemlich gut werden wird. Sie scheinen jedenfalls die Richtige zu sein, um es zu schreiben.«
Karen folgte ihm. »Ja, das sagt mein Patenonkel auch immer. Er ist mein Verleger, wissen Sie? Ich arbeite gewissermaßen für ihn.«
Delvaux stutzte. »Wieso gewissermaßen? Entweder arbeiten Sie für ihn oder nicht.«
»Na ja, ich arbeite schon für ihn, aber irgendwie habe ich manchmal das Gefühl … Nein, vergessen Sie’s. Ein dummer Gedanke.« Sie hatte immer noch Delvaux’ Buch in der Hand, als sie oben bei der Nationalstraße zwischen Delphi und Arachova angekommen waren.
»Geben Sie mir eine Widmung?«
»Ja, natürlich, aber nicht hier. An meinem Arbeitsplatz im Lager habe ich dazu mehr Ruhe.«
Karen nickte und packte das Buch wieder in den Rucksack, in dem Delvaux auch einen Collegeblock bemerkte. Dann warf sie einen Blick zurück auf die Säulen der Tholos unter sich und dann hinauf zum Apollon-Tempel.
»Sind die Tempel eigentlich in eine bestimmte Himmelsrichtung gebaut worden? Nord–Süd oder West– Ost?«
Delvaux freute sich über diese Frage, da sie zeigte, dass sich Karen anscheinend wieder besser fühlte.
»Sie meinen so wie die Pyramiden oder Stonehenge? Nein, es gibt keine Ausrichtung zur Sonne, zum Mond oder zum Sirius-Stern. Merkwürdig, nicht wahr? Wenn Menschen heilige Tempel, Pyramiden oder Steinkreise bauen, vermutet man immer eine geniale Ausrichtung nach den Himmelsrichtungen, aber in Wirklichkeit sind die griechischen Tempel an die Umgebung angepasst worden. Darin lag ihre Perfektion. Es ging um geordnete Schönheit im Gegensatz zur chaotischen Natur. Deswegen halte ich Delphi auch für einen Ort des Kampfes. Es war der ewige Kampf des Menschen gegen die Elemente und die Naturgewalten, den die Natur lange Zeit gewonnen hatte.
Wenn man bedenkt, dass Delphi, als der englische Dichter Lord Byron vor mehr als hundertachtzig Jahren hier vorbeikam, außer in den alten Schriften Homers überhaupt nicht existent war! Die Bewohner von Kastri, die über den Ruinen wohnten, wussten nichts über Delphi, was wohl auch an der vierhundertjährigen Herrschaft des Osmanischen Reiches lag. Es war schon absurd. Während an den Universitäten in London, Paris und Madrid Homer, Platon, Aristoteles und Sophokles gelehrt wurden, wussten die Einwohner Kastris nichts von ihrem alten
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