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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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Ihnen hier im Marmaria die richtige Auswahl zur Verfügung. Ihre Hand berührt gerade pentelischen Marmor. Dort drüben ist parischer Marmor, und die Trommelstücke sind aus dorischem Marmor. Alles aus mehreren hundert Kilometern hierher transportiert. Aber jetzt ist das Heiligtum nur noch ein Trümmerfeld, das von den Einheimischen seit Jahrhunderten als Steinbruch genutzt wurde. Deswegen der Name Marmaria. Er bedeutet Marmorsteinbruch.«
    Karen nickte und wandte den Kopf hinauf zu den Phädriaden, als sie eine tiefe Traurigkeit in sich spürte. »Menschen haben es erbaut, und Menschen haben es zerstört«, flüsterte sie, doch Delvaux war nahe genug, um ihre Worte zu hören.
    »Nein, es waren nicht nur die Menschen, die aus dem Marmaria ein Trümmerfeld machten. Delphi war immer ein Ort der Urgewalten, der Erdbeben und Verschüttungen. Auch mein Ururgroßvater wurde ein Opfer der delphischen Felsen.«
    Karen hob den Kopf. »Wie bitte?«
    »Er hatte zwei zerbrochene Kleophrades-Kelche gefunden und wollte sie zur Restauration nach Athen bringen, als ein Erdstoß den Steinhang über ihm in Bewegung setzte und Androuet, seinen Wagen und die Pferde unter sich zermalmte.«
    Karen zuckte bei dem Gedanken zusammen. »Wie schrecklich!«
    »Ja, es blieb wohl nicht viel von ihm übrig. Sehen Sie den Steinrutsch dort unten mit dem riesigen Felsen in der Mitte?« Delvaux deutete ins Tal, wo Karen auf halber Höhe einen großen Felsen mit einem steinernen Kreuz erkennen konnte. »Seine Kollegen hatten noch die Hoffnung, dass er vielleicht in den losen Steinschichten überlebt haben könnte, und buddelten sofort mit ihren Schaufeln und Händen nach ihm. Aber es war umsonst. Er lag direkt unter dem Felsen. Sie kamen nicht mehr an ihn ran. Deswegen bauten sie ihm dieses Kreuz auf dem Stein. Die griechischen Hilfskräfte waren damals überzeugt, dass Apollon das Erdbeben geschickt hatte, um den Raub seiner Weihgaben zu verhindern.« Er schnaubte verächtlich. »Aber dann hätte er wohl eher Kaiser Nero und die anderen Räuber strafen müssen als meinen Vorfahren Androuet.«
    »Und die Kleophrades-Kelche? Waren die auch für immer begraben?«
    »Nein. Sie lagen relativ unbeschadet am Berghang in ihren Transportkisten, doch die griechischen Arbeiter weigerten sich, sie anzurühren und wieder nach Delphi zu bringen. Stattdessen mussten einige französische Assistenten mit anpacken und sie zurücktragen.«
    Karen lag die Frage auf der Zunge, ob die Assistenten später auch bei Unfällen ums Leben gekommen waren, doch dann stellte sie lieber eine andere.
    »Wo befinden sich die Kelche jetzt? Im Museum hier in Delphi oder in Athen?«
    Delvaux nahm den Strohhut vom Kopf und fächelte sich Luft zu. »Weder noch. Nachdem sich niemand mehr an sie rangetraut hatte und sie fast hundert Jahre in der hintersten Ecke eines Magazins in Athen standen, wurde eine Kylix von einem japanischen Archäologen angefordert. Leider wohnte er in Kobe. Er und die Kylix haben das verheerende Erdbeben damals nicht überstanden.«
    Karens Arme überzogen sich mit einer Gänsehaut, und trotz der wärmenden Mittagssonne begann sie plötzlich am ganzen Körper zu frieren. Sie wagte kaum die nächste Frage zu stellen, aber ihre Neugier war zu groß. »Und … und was ist mit der anderen Kylix geschehen?«
    »Sie hatte das gleiche Schicksal. Das Erdbeben von Izmit hat sie erwischt, wo sie für eine Sonderausstellung der Perserzeit in Istanbul hergerichtet werden sollte.«
    Karen wurde für einige Sekunden schwindlig, doch dann fing sie sich wieder und sah Delvaux ungläubig an.
    »Kobe und Izmit? Beide Kelche wurden bei den Erdbeben zerstört, die insgesamt über zwanzigtausend Menschen getötet haben? Aber das ist doch …«
    »… nur ein Zufall, mehr nicht. Sie werden doch nicht wie unsere abergläubischen Helfer an so etwas wie Apollons späte Rache glauben, oder?«
    Er wandte sich von ihr ab und ging einige Schritte zum Weg, der hinter den Fundamenten des Athena-Tempels zur Nationalstraße hinaufführte.
    »Wenn ich Ihnen noch meinen Arbeitsplatz im Museumslager zeigen soll, müssen wir allmählich zurückgehen. Ist bei Ihnen alles okay?«
    Er sah ihr weißes Gesicht und machte sich für einen kurzen Moment Sorgen. Sie würde hier mitten in den Ruinen doch wohl hoffentlich keinen Kreislaufkollaps bekommen? Aber dann zog sie ihren Rucksack zurecht und folgte ihm langsam den Weg hinauf.
    »In Androuets Nachlass befanden sich seine Ausgrabungsunterlagen und Fotos,

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