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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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Ratsuchenden hätten irgendwann gemerkt, dass die Orakelsprüche nicht weise, sondern willkürlich und machtpolitisch waren. Das hätte auf Dauer nicht funktioniert. Natürlich besaßen die Priester Macht, und sie waren sich dessen auch bewusst. Aber Macht bedeutet in erster Linie sehr viel Verantwortung, finden Sie nicht auch, Simon? Ich denke, dass die Pythia und die Priester immer versuchten, ihre Ratschläge zugunsten aller griechischen Stadtstaaten zu fällen und ausgleichend auf die rivalisierenden Kräfte zu wirken. Delphi ist für mich ein Ort des Friedens.«
    Delvaux konnte dem nicht zustimmen. »Ein Ort des Friedens? Ich denke eher, dass es schon immer ein Ort der Rivalität und des Kampfes war. Aber lassen Sie uns nicht streiten. Wenn ich hier im delphischen Boden eine Opfer-schale finde, ist es für mich egal, ob sie arkadisch, lakonisch oder thrakisch ist. Hauptsache, sie ist gut erhalten oder in sonst einer Form einzigartig.«
    Für jedes leere Podest, dass sie auf ihrem weiteren Weg passierten, hatte Delvaux die passende Erklärung, und nebenbei lernte Karen auch noch, dass die Außenmauer aus isodomen Quadern bestand, ehe sie unten am Haupteingang zum Heiligen Bezirk ankamen.
    »Es gab kein Eingangstor«, erklärte Delvaux. »Ist das nicht merkwürdig? Die Akropolis in Athen hat ihre fulminanten Propyläen, und in Delphi wurde nicht einmal ein simpler Torbogen gebaut. Hier ist einfach nur ein Mauerdurchlass.«
    Karen fand Gefallen an dieser architektonischen Einfachheit. »Torbögen und prächtige Eingänge sind doch eigentlich ein Zeichen dafür, dass man von einem Reich in ein anderes gelangt. Das wollte Apollon nicht, sondern er zeigte den Menschen, wie nahe er ihnen war und wie leicht sie ihn erreichen konnten.«
    Sie gingen an einigen Säulen vorbei, hinter denen sich fünf kleine Räume befanden.
    »Möglich. Und die Römer verdeutlichten es noch durch den Bau dieser Agora, in der die Pilger ihren Obolus für die Orakelbefragung kaufen konnten. Vom weltlichen Basar direkt ins göttliche Heiligtum«, sagte Delvaux mit sarkastischem Unterton, während sie an einer kleinen Pinie vorüberkamen, die sich mitten auf dem Weg zum Heiligtum einen Platz erkämpft hatte und jedem Besucher für einen kurzen Moment Schatten schenkte.
    Karen drehte sich um und warf einen Blick zurück auf die Heilige Straße und zum Apollon-Tempel hinauf, dessen Säulen durch den Berghang teilweise verdeckt wurden.
    »Wie groß ist das Gelände eigentlich?«
    »Hundertfünfunddreißig zu hundertneunzig Meter bei einer Steigung von siebzig Metern.«
    Das erstaunte Karen. »Durch den terrassenförmigen Bau und die breite Straße merkt man die Steigung nicht so stark, finde ich. Man ist an einem Berghang, und trotzdem ist es ein sanfter Weg.«
    Delvaux musste grinsen. »Das liegt wohl eher daran, dass wir die Heilige Straße hinuntergegangen sind anstatt wie die Pilger damals hinauf. Und es geht noch weiter hinab. Sehen Sie die Ruinen dort drüben auf halber Strecke zum Athena-Heiligtum? Sie sind unser nächstes Ziel.«

16
    Sie gingen zur Nationalstraße und folgten ihr entlang der Phädriaden vorbei an der Schlucht, die die Kastalia-Quelle schon seit Jahrtausenden in die Felsen trieb, bis sie unter sich die Ruinen des Gymnasions erblickten, Umrisse alter Wasserbecken und einer langgestreckten Halle, in der die Athleten damals für ihre Wettkämpfe trainiert hatten.
    Doch Delvaux hatte nicht mehr viel Zeit, und so gingen sie weiter bis zum Trümmerfeld des Athena-Heiligtums und den drei berühmtesten Säulen Delphis, den Überresten der Tholos, eines Rundtempels, dessen weiße Säulen vor der Kulisse der Phädriaden einen einmaligen Kontrast erzeugten. Dort die naturgewaltigen Felsen und hier von Menschen kunstvoll behauener Stein.
    Karen war fasziniert von der Schönheit dieser Säulen mit ihren Reliefmetopen. Vorsichtig stieg sie die drei Stufen zur Cella des Rundtempels empor und berührte sanft eine der Säulen.
    »Wunderschön«, hauchte sie verzaubert und lächelte Delvaux zu, der ein kurzes Stück vorausgegangen war und jetzt wieder zurückkam. Doch er blieb außerhalb der Tholos stehen und wischte sich mit dem rechten Armrücken über die Stirn. Es war inzwischen Mittag geworden, und die Maisonne gewann immer mehr an Kraft. Er sah zu Karen hoch, die neben einer der Säulen stand und sie zu lieb kosen schien.
    »Lieben Sie Marmor?«
    »Ja«, antwortete Karen leise. »Er zieht mich geradezu magisch an.«
    »Na, dann steht

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