Der zerbrochene Kelch
Kulturerbe. Erst als George Wheeler und Jacques Spon in einem der Häuser einen Stein mit der Aufschrift delphoi entdeckten, erkannten sie, dass sie den Ort des berühmten Delphischen Orakels gefunden hatten.«
17
Sie ließen die Ruinen der Marmaria und des Gymnasions hinter sich und folgten der Nationalstraße hinauf bis zum Museum.
»Waren Sie eigentlich schon im Museum, Karen?«
»Nein, aber Nikos hat mir für heute Nachmittag einen Rundgang versprochen.«
»So, hat er das? Aber dafür ist es doch schon viel zu spät.«
Er warf einen vielsagenden Blick auf die ersten Touristenbusse dieses Tages, die neben dem Museum parkten. »Bei solchen Menschenmassen macht eine Führung keinen Spaß, glauben Sie mir. Aber Sie wollten sich ja sowieso erst noch unser Lager und meinen Arbeitsplatz anschauen, nicht wahr? Vielleicht sind die Busse danach ja weg.« Er führte sie um das langgezogene Museumsgebäude herum zu einem Anbau und schloss die Tür auf. »Willkommen in meinem Reich.«
Delvaux öffnete die Tür und ging die drei Stufen hinunter ins Lager. Karen folgte ihm und erblickte links von ihr mehrere mannshohe Glasvitrinen mit Plastiken aus der mykenischen Zeit neben Metallregalen mit vielen Kartons, die vorn mit kurzen kryptographischen Signaturen beschriftet waren. Rechts von ihr stand ein schwerer Arbeitstisch aus Holz mit kleineren Kartons, die teilweise übereinandergestapelt waren. Einige hatten keinen Deckel, und Karen vermutete, dass Delvaux in ihnen die unterschiedlichen Tonscherben sortierte. Der Holztisch war anscheinend erst vor kurzem benutzt und noch von jahrtausendealtem Sand bedeckt.
Delvaux griff nach einer kleinen Bürste und Handschaufel und versuchte den mit Kerben übersäten Tisch oberflächlich sauber zu bekommen, aber die Sandkörner versteckten sich vor ihm nur noch tiefer in den Kratzern und Poren des alten Holzes.
»Bitte entschuldigen Sie den Schmutz, aber wir lassen hier keine Putzfrau rein. Nur der Professor, ich, Nikos und drei Ausgrabungshelfer dürfen diesen Raum betreten.«
Karen hob abwehrend die Hände. »Kein Problem, lassen Sie ruhig. Das stört mich nicht.« Sie wanderte zu den Glasvitrinen und betrachtete die mykenischen Büsten mit ihren schrägen Augen, die sie misstrauisch zu beobachten schienen.
Delvaux legte Bürste und Handschaufel beiseite und stellte sich neben Karen.
»Hässlich, diese mykenischen Fratzen, finden Sie nicht? Es sind wirklich nicht gerade unsere besten Stücke. Sie werden demnächst nach Athen geschickt, um dann nummeriert in irgendeinem Lager zu verschwinden. Aber hier, schauen Sie sich das mal an.«
Er ging zu einem breiten Holzschrank und zog langsam die unterste Schublade heraus, die sich nur widerwillig von ihm öffnen ließ. Zum Vorschein kamen unterschiedliche Vasen, Henkelgefäße und Amphoren. Delvaux nahm eine heraus und hielt sie Karen entgegen. Sie war mit Dekoren der antiken Heldengeschichten bemalt.
»Hier, so etwas ist doch viel schöner als die mykenischen Figuren. Ein Skyphos, ein Trinknapf mit Henkeln. Und hier eine Kyathos, ein Becher mit nur einem hohen Henkel, mit dem man gemischten Wein aus einem Glockenkrater wie dem dort drüben schöpfen konnte.« Er deutete auf ein großes bauchiges Tongefäß, das neben der Tür stand, während er die Schublade vorsichtig wieder schloss und die nächste darüber öffnete. »Hier haben wir einige feinere Tongefäße drin, das heißt, eigentlich sind es nur die Scherben, aber mit meinem Computerprogramm kann ich sie alle wieder lebendig werden lassen. Wollen Sie es mal sehen?«
»Ja, gern.« Karen schmunzelte, als sie den beinah fanatischen goldenen Schimmer in seinen Augen sah. Er fasste die Tonscherben so vorsichtig an, wie sie es bei den Seiten eines mittelalterlichen Buches gemacht hätte. Ihr wurde bewusst, wie sehr er diese alten Scherben liebte und es ihm Spaß machte, sie wieder zusammenzufügen. »Trotz des Computers muss es doch eine immense Arbeit sein, diese kleinen Teile wieder zusammenzupuzzeln.«
Delvaux legte die Tonscherbe zurück und schloss die Schublade.
»Allerdings. Schließlich müssen die Scherben erst vorsichtig gesäubert und katalogisiert werden. Das kann der Computer immerhin noch nicht. Und die Teile zusammenkleben kann er zum Glück auch noch nicht.« Sie gingen in einen kleinen weiß gestrichenen Büroraum, in dem nur Platz für zwei Schreibtische und einige Wandregale mit Kartons und Vasenkopien waren. An den Wänden hingen ein großformatiger
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