Der zerbrochene Kelch
Kalender mit Bildern der Akropolis und ein Poster aus dem Museum, das eine Sonderausstellung von vor drei Jahren ankündigte.
Delvaux startete den Computer und zeigte Karen in seinen Bilddateien eine große Auswahl der Vasen, Becher und Amphoren, die er bei früheren Ausgrabungen und Exkursionen zusammengefügt hatte. Vor Karens Augen wechselten sich griechische Glockenkrater mit phönizischen Opferschalen auf dem Bildschirm ab, die das Programm in genauester 3-D-Darstellung und Rundumblick zeigte.
Karen war fasziniert, dass die alten Vasen und Trinkbecher, die durch Erdbeben oder Kriege zerstört worden waren, von Delvaux ein neues Leben erhielten, aber bei einigen Kunstwerken bekam sie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, und bei ein paar Bildern zuckte sie sogar leicht zusammen, doch Delvaux merkte es nicht.
»Meinen Sie nicht, dass man die Dinge, die rituell bei einer Zeremonie zerstört wurden, lieber nicht wieder zusammenfügen sollte? Ich meine, sie gehören doch … Man sollte doch einen gewissen Respekt davor haben … Ich meine …« Sie rang nach Worten, aber sie hatte nicht den Mut, es auszusprechen. Doch Delvaux verstand sie sehr gut und ärgerte sich zum ersten Mal über sie.
»Was reden Sie da für einen Blödsinn. Als Wissenschaftler ist es meine Aufgabe, diese Artefakte wieder zusammenzufügen, denn nur dadurch lernen wir unsere eigene Geschichte kennen. Hier, sehen Sie zum Beispiel diese Scherbe.«
Er griff in einen kleinen Karton auf dem Schreibtisch und hielt vorsichtig eine schmale Scherbe zwischen den Fingern. »Ich nehm sie einfach, bestimme Art, Alter und Beschaffenheit und gebe dann eine Abfrage ein. Mit dem Computer habe ich Zugriff auf ungefähr hundert Datenbanken auf der ganzen Welt, und meistens bekomme ich dann auch ein Ergebnis, das mir weiterhilft. Manchmal allerdings auch nicht. Aber das macht nichts, denn dann weiß ich, dass ich etwas Besonderes gefunden habe.«
Karen schluckte einen Kloß im Hals hinunter. »Haben Sie denn schon mal etwas Besonderes gefunden, Simon? Etwas Einzigartiges?«
Delvaux war durch ihre Neugier wieder etwas versöhnt und am Überlegen, ob er ihr seinen Schatz zeigen sollte. In ihrem Gespräch gestern Abend hatte er ihn noch verschwiegen und die Entdeckung des Brunnenbeckens als unwichtiges Ereignis heruntergespielt, obwohl er dort tatsächlich etwas Wertvolles gefunden hatte.
»Ja, das habe ich.«
»Wo?«
»Hier in Delphi. Im Brunnenbecken.«
»Darf ich wissen, was es ist?«
Delvaux wandte den Kopf ab und beugte sich nach unten, um den Computer auszuschalten. »Das dürfen Sie. Ich werde es Ihnen sogar zeigen.«
Er führte sie in den Arbeitsraum zurück und ging zu einem grauen Tresor, der von einigen leeren Sandsäcken verdeckt war. Mit einer einzigen Handbewegung wischte er sie beiseite, gab den Zahlencode ein und öffnete dann die schwere Metalltür. Im oberen Fach lagen einige Papiere und eine mykenische Plastik, aber im unteren Fach stand ein stabiler Glaskasten, in dessen Mitte eine Trinkschale lag, die in drei große und mehrere kleine Teile zerbrochen war.
Karen zuckte zurück. »Eine … eine Kylix?«
Delvaux stellte den Glaskasten auf den großen Arbeitstisch. »Ja. Ist sie nicht schön? Es ist zwar kein Gold, keine Bronzeplastik und auch keine Nike aus Marmor, aber trotzdem mein ganzer Stolz. Ein Prachtwerk ihrer Art. Die Malerei deutet ebenfalls wie bei den beiden von meinem Vorfahren gefundenen Trinkschalen auf Kleophrades hin, aber von dem alten athenischen Maler gibt es jetzt nur noch eine Bauchamphore und eine Urne. Die anderen Trinkschalen sind ja leider für alle Zeit verloren. Somit ist diese hier sozusagen die letzte Kleophrades-Kylix, die noch auf der Welt existiert.«
Karen betrachtete die Trinkschale mit gemischten Gefühlen. Obwohl Delvaux so stolz darauf war, schien etwas Unheilvolles von ihr auszugehen. Instinktiv trat Karen einen Schritt zurück. »Ist sie … ist sie vollständig erhalten?«
Delvaux blickte auf die Scherben im Glaskasten. »Es sieht so aus. Ich bin mit der Rekonstruktion noch nicht ganz fertig, aber wir haben wahrscheinlich Glück. Können Sie sich das vorstellen, eine Kylix in Händen zu halten, die einzig sein wird auf der Welt? Sie ist fantastisch.«
Er öffnete den Behälter, holte den unteren Teil der schwarz bemalten Kylix heraus und stellte ihn vorsichtig auf den Tisch. »Es ist eine rotfigurige Malerei, etwa 500 v. Chr. entstanden. Kleophrades hat die Figuren ausgespart und ihre
Weitere Kostenlose Bücher