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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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Erdbeben … Nikos glaubt, dass ihnen etwas passiert sein könnte, doch die anderen meinen, dass sich die beiden in Arachova vielleicht einen schönen Tag machen.«
    Theophora sah auf die weißen Lichtpunkte, die den Berg hinaufstrebten. »Nein«, sagte sie fast lautlos. »Es ist gut, dass sie nach ihnen suchen.«
    »Aber es ist gefährlich, nachts in die Felsen zu gehen. Nikos ist auch dabei. Was ist, wenn sie verunglücken und sterben?« Selena rang die Hände.
    Theophora hörte ihre Angst, und Mitleid kam in ihr auf, aber sie wusste, dass ihre Worte Selena nicht beruhigen würden. »Was geschehen muss, wird geschehen. Niemand kann das verhindern. Aber Simon darf die Frau nicht töten. Ich hoffe, er weiß das.«

39
    Nur einen Kilometer von Theophoras Haus entfernt war Delvaux zwischen den Felssteinen wieder zur Besinnung gekommen und stöhnte leise bei dem Gedanken an sein Schicksal.
    »Der Berg hat versucht mich umzubringen«, haderte er. »Genau wie Androuet …«
    Karen sah in sein schmerzverzerrtes Gesicht und hoffte, dass das, was sie sah und ahnte, nicht wahr werden würde. »Der Berg hat es aber nicht geschafft. Wir leben noch.«
    Delvaux spürte Karens Angst und wusste, dass er ihr so keine Hilfe war. »Ja, wir leben noch. Wir werden es schaffen«, keuchte er, immer flacher atmend.
    »Sie werden uns finden, oder?«
    Trotz des Verlangens, sich erneut einer Bewusstlosigkeit hinzugeben, hielt Delvaux den Kopf hoch und lächelte aufmunternd. »Ja, sie werden uns finden. Die Frage ist nur, wann. Es gibt hunderte von diesen Höhlen in der Umgebung von Delphi. Und wann werden sie anfangen, uns zu suchen? Heute? Oder morgen? Oder übermorgen?«
    »Aber Nikos kennt doch diese Höhle, oder nicht?«
    Delvaux nickte beruhigend. »Ja, er wird uns sicher finden.« Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, um Kräfte zu sparen, und sein Kopf sank wieder auf Karens Brust.
    »Simon! Du musst wach bleiben! Hörst du? Erzähl mir von deinem Studium in Brüssel! Bitte!«
    »Nicht jetzt«, murmelte Delvaux schwerfällig, »nicht jetzt.« Sein Kopf rollte langsam zur Seite, während ein leichter Wind in seinem staubigen weißen Haar spielte.
    Er war wieder nur bewusstlos. Nicht tot. Oder doch? Sie hätte es doch gemerkt, oder? Plötzlich begann Karen zu schluchzen, als sie den leblosen weißen Haarschopf vor sich sah. Sie erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen am Flughafen und an Simons fröhliches, jungenhaftes Gesicht, als er sie in Athen begrüßte und ihr einen schönen Aufenthalt in Griechenland gewünscht hatte. Er war so unbeschwert und lebensfroh gewesen … und nun?
    Tränen stiegen ihr in die Augen. Es war unerträglich, sie nicht wegwischen zu können. Verzweifelt sah Karen auf das Gesicht vor sich und ließ den Tränen freien Lauf. Würde man sie wirklich finden? Würde man sie rechtzeitig finden? Oder war diese Höhle ihr Grab?
    Sie hätte Simon so gern durchs Haar gestrichen und ihn liebkost, auch wenn er die Berührung nicht spüren würde. Aber es hätte ihr wenigstens Trost gegeben, anstatt eingeklemmt auf die Kälte der Nacht zu warten. Und dabei war es so ein schöner Abend. Die Felsen glühten zuerst rosarot, dann orange, als sich die Sonne hinter Karens Kopf langsam nach Westen neigte.
    »Es wird dunkel«, sagte Karen zu dem leblosen Simon. Würde sie wirklich eine Nacht so verbringen müssen? Eingeklemmt in einem Felsen, zusammen mit einem toten oder halb toten Mann – ein ekelerregender Gedanke. Das Atmen bereitete ihr immer mehr Probleme, denn Simons Last schien von Minute zu Minute schwerer zu werden. Zum Glück lag er nicht auf ihrem Brustkorb, sondern nur auf ihrer Hüfte und den Beinen, die inzwischen gefühllos waren. Würde man sie ihr amputieren müssen, weil sie zu lange eingeklemmt waren? Tränen stiegen wieder in ihr auf. Minutenlang weinte sie, während über ihr die Sterne ihren Weg übers Firmament nahmen.
    Sterne. Sterne, die Sokrates schon betrachtet hatte, dachte sie und erinnerte sich an ihr Gespräch mit Nikos auf der Hochebene. Wo war er jetzt? Jetzt, wo sie ihn so sehr brauchte?
    Plötzlich rollten ein paar kleine Steine den Abhang neben ihrem Kopf hinunter und eine Stimme, die eben noch so vertraut in ihren Gedanken schwang, rief mit einem fragenden Unterton ihren Namen.
    »Karen?«
    Sie wandte den Kopf zu einer schwankenden Lichtquelle, die den Berg hinabgerutscht kam.
    »Karen? Geht es dir gut?«
    Ihr Herz wollte zerspringen, als sie die Stimme und dann Nikos im fahlen

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