Der zerbrochene Kelch
Eros’ Pfeil so verliebt, dass er Daphne tagelang überallhin verfolgte. Sie wusste keinen Ausweg mehr und bat ihren Vater, den Flussgott Peneios, sie zu sich zu nehmen oder ihr eine andere Gestalt zu geben. Daraufhin verwandelte er Daphne vor Apollons Augen in einen Lorbeerbaum.
So verlor Apollon seine geliebte Daphne, aber er verehrte sie weiterhin, indem er den Lorbeerbaum zu seinem Zeichen machte. Seitdem wird Apollon auf Vasen und Münzen mit einem Lorbeerkranz gezeigt, und der Lorbeer wurde der heilige Baum Delphis. Der Boden des Apollon-Tempels wurde nur mit Besen aus heiligen Lorbeerzweigen gefegt, und selbst im Adyton stand ein Lorbeerbusch neben dem Dreifuß der Pythia.«
Eliadis griff nach einem Lorbeerbusch, der neben ihm stand, und brach einen dünnen Zweig ab. Er reichte ihn Karen, die ihn vorsichtig in die Hand nahm, als könnte er unter ihren Fingern zerbrechen, doch der Zweig war erstaunlich biegsam.
Er nahm ihn ihr wieder ab und steckte ihn ihr knapp oberhalb des rechten Ohrs ins Haar.
»Die Sieger der Pythischen Spiele wurden mit einem Lorbeerkranz geehrt, während sie in Olympia einen Kranz aus Olivenzweigen bekamen. Die meisten Menschen bringen das durcheinander, aber der Lorbeerkranz gehört zu uns nach Delphi.«
Karen merkte, dass Nikos das ärgerte, und zweifelte nicht daran, dass er das bei den Touristen bei jeder Museumsführung klarstellte.
»Apollon war also im Tempe-Tal nicht nur mit reiner Sühne beschäftigt«, stellte Karen amüsiert fest und nahm den Zweig wieder aus ihrem Haar.
»Natürlich nicht. Wer kann schon einer schönen Frau widerstehen? Doch Daphne war für immer verloren.«
»Eine unglückliche Liebe.«
»Aber bis zuletzt voller Verehrung. Nach seiner Zeit im Tempe-Tal hatte Apollon sich verändert. Er kehrte geläutert nach Delphi zurück, erbaute hier sein Heiligtum und versuchte die Menschen von Mord und Blutrache abzuhalten, was die Erinnyen, die Rachegöttinnen, erzürnte, da Apollon sie arbeitslos machte.«
Karen lachte. »Die Ärmsten. Aber sie wurden wohl nicht ganz arbeitslos, oder? Leider gibt es doch immer schlechte Menschen, die ihnen zuarbeiten.«
»Natürlich gibt es solche Menschen. Sollen wir weiter zur anderen Kastalia-Quelle gehen, oder willst du noch ein bisschen hierbleiben?«
Karen konnte sich von dem alten Wasserbecken kaum trennen und strich noch mal über den verwitterten Poros-Stein, ehe sie die Hand hob und verwirrt einen Schritt zurücktrat. Ihre Hand kitzelte, als ob sie sich an Brennnesseln verbrannt hätte, doch da waren weit und breit keine zu sehen. Auch keine vereinzelte Brennnesselpflanze. Sie hatte wirklich nur die alten Steine berührt. Nicht einmal an den grünen Efeu war sie gekommen, und trotzdem vibrierte ihre Hand wie elektrisiert.
Eliadis bemerkte ihre Verblüffung und wollte sie gerade etwas fragen, als Karen abwinkte. »Es ist nichts, es geht schon. Ich denke, ich habe genug gesehen. Lass uns weitergehen.«
»Gut, wenn du meinst.« Er öffnete ihr wieder den Weg durch die tief hängenden Tannenzweige und führte sie einen kurzen, aber steilen Weg nach Norden. »Das alte Becken wurde übrigens erst in den fünfziger Jahren entdeckt«, erklärte er, während ihnen die italienische Schülergruppe wieder entgegenkam und zum Gymnasion weitermarschierte.
Karen war verblüfft. »Was? Trotz all der Ausgrabungen erst so spät?«
»Ja, unglaublich, nicht wahr? Und dann auch nur rein zufällig, als man die Nationalstraße verbreitern wollte. Das Becken war schon seit Urzeiten verschüttet. So wie alles hier in Delphi, aber man sieht, dass der Ort jederzeit für Geheimnisse gut ist. Die Vergangenheit holt einen überall wieder ein.«
»Ja, das scheint mir auch so«, murmelte Karen, während sie sich gedankenverloren mit dem Lorbeerzweig über die Wange strich. Wenn sie einige Jahrzehnte früher geboren worden wäre, hätte sie diesen archaischen Brunnen vielleicht niemals zu Gesicht bekommen. Sie war also zur richtigen Zeit hier. Sie wusste es.
Wenige Minuten später erreichten sie die jüngere Kastalia-Quelle, die aus dem roten Felsen gehauen war und in dessen Sammelbecken bis heute das heilige Wasser aufgestaut wurde. Doch auf der Wasseroberfläche schwammen grüne Moosarten, sodass Karen lieber zu einem kleinen Loch an der Nordwestecke des Felsens ging und dort das klare Wasser in ihrer Hand auffing, das dort langsam aus dem Berg herausfloss.
»Das heilige und inspirierende Wasser der Kastalia- Quelle«, murmelte sie und
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