Der zerbrochene Kelch
heute lieber außerhalb des Heiligen Bezirks aufhalten und hatte Karen, nachdem sie sich einigermaßen erholt hatte, dazu überreden können, einen Spaziergang zur Kastalia-Quelle zu machen.
Karen wusste, dass es kein weiter Weg war, und hatte seinem Vorschlag nach kurzem Überlegen zugestimmt.
»Vielleicht bringt das ja meinen Kreislauf wieder in Gang«, meinte sie und hatte sich ihre bequemen Gesundheitssandalen angezogen, auch wenn ihr der gesamte Rücken und die Beine noch wehtaten.
Eliadis führte sie auf dem Sandweg unterhalb der Außenmauer zum unteren Bereich der Kastalischen Schlucht.
»Es gibt zwei Kastalia-Quellen, aber das wissen die meisten Touristen nicht«, erklärte er. »In den Reiseführern ist fast immer nur die neuere Kastalia-Quelle abgebildet, die die Römer veränderten, aber die wirkliche und ursprüngliche Kastalia ist hier unten am Fuße des Phlemboukos-Felsens.«
Er deutete auf eine Gruppe dichter Kiefern, die in ihrer Mitte etwas zu verstecken schienen.
Vor Karen und Eliadis liefen italienische Schüler, die von ihrem Lehrer an der nächsten Weggabelung nach links den Berg hinaufgeführt wurden, während Eliadis und Karen auf dem unteren Weg blieben.
»Verstehst du, was ich meine?« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Es ist typisch, dass sie zum jüngeren Brunnenbecken gehen. Na ja, dann haben wir hier unten vielleicht unsere Ruhe, wenn nicht schon andere Touristen dort sind.«
Es war nicht mehr weit, aber er genoss jeden einzelnen Schritt, den sie zusammen auf diesem Weg gingen.
Der Weg zurück zur Quelle.
Sie erreichten die dunklen Kiefern, unter deren schützenden Nadelkronen alte Stufen zu einem kleinen gemauerten Hof führten. Eliadis drückte für Karen einige Zweige beiseite, die über die Stufen hinauswuchsen, und folgte ihr dann auf die glatten silbergrauen Bodenplatten des Brunnenhofs. Sie gingen die wenigen Meter zur nördlichen Steinwand, durch deren schräge Fugen ihnen wilder Efeu entgegenschlängelte.
»Hier kam das heilige Wasser aus dem Felsen«, sagte Karen, während ihre Hände über den groben Poros-Stein des Wasserbeckens fuhren und ihr Blick an dem teilweise noch erhaltenen blauen Farbverputz hängen blieb.
»Ja, aus vier steinernen Löwenköpfen floss das Wasser der Kastalia, um die Pilger durch eine symbolische Waschung von ihren Sünden zu befreien.«
Karen war fasziniert, jeder Schmerz in ihrem Körper verschwunden. »Die Pythia und die delphischen Priester achteten also auf Moral und Anstand der Hilfesuchenden?«
Eliadis nickte. »Apollon hatte es ihnen so befohlen. Die Pythia hat sogar Pilger abgelehnt, wenn sie wusste, dass sie sich schuldig gemacht hatten. Eines Tages kam jemand zu ihr, der einen Menschen getötet hatte. Sie verweigerte ihm die Weissagung und wollte ihn wieder wegschicken, und erst als er ihr versicherte, dass es ein Unglücksfall gewesen war und er es wirklich nicht gewollt hatte, ließ sie ihn zur Befragung zu.«
»Das zeigt, dass aus dem rachsüchtigen Apollon ein vergebender Gott geworden war.«
»Ja, das war er. Sein Orakel versuchte die Menschen an ihre Tugenden zu erinnern und hatte Vorbildcharakter. Wenn die Pythia einen Mörder abwies, sprach sich das im ganzen Land herum, und ihre Sprüche und ihr Verhalten waren wegweisend für alle Griechen. Während jede Polis ihre eigenen Gesetze hatte, bekamen die Menschen durch die Sprüche der Pythia zum ersten Mal so etwas wie göttliche Gesetze. Einen Menschen zu töten oder Blutrache zu nehmen prangerte sie an. Kennst du übrigens die Legende von Apollons Läuterung?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Apollon war ursprünglich ein kämpferischer und rachsüchtiger Gott. Doch als er in Delphi die Pythonschlange getötet hatte, spürte er eine schwere Schuld auf sich und zog sich zur Sühne ins Tempe-Tal zurück. Dort begegnete er Eros, der sich abmühte, seinen Bogen zu spannen. Als Apollon den geflügelten Liebesgott sah, bespöttelte er ihn, doch der wollte die Häme nicht auf sich sitzen lassen und Apollon die Stärke seiner Liebespfeile beweisen.
Er flog auf den Gipfel des Parnass und schoss einen goldenen Pfeil auf Apollon, der daraufhin in heftiger Liebe entflammte. Danach schoss er einen bleiernen Pfeil auf Daphne, bei der dieser Pfeil genau das Gegenteil bewirkte. Sie stumpfte gegen jegliche Liebe ab und eiferte der jungfräulichen Göttin Diana nach, die jagend durch die Wälder und Berge zog.
Sie wies alle Freier ab, auch Apollon, doch der war durch
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