Der zerbrochene Kelch
den Berg hinuntergerannt war.
Was hatte sich Nikos nur dabei gedacht, sich ihr auf diese Art und Weise zu nähern, obwohl er doch genau wusste, dass sie mit Michael liiert war? Und als sie ihn abwies, hatte er bei Selena offensichtlich mehr Glück gehabt und sich ohne Umschweife gleich ihr an den Hals geworfen.
Verrückter Kerl. Doch sie musste auch zugeben, dass der junge Grieche eine ungewöhnliche Ausstrahlung hatte, der sie sich kaum entziehen konnte.
Sie warf einen langen Blick hinaus zu den Phädriaden und zum archaischen Brunnen neben der Nationalstraße, an dem er ihr von Apollons unerwiderter Liebe zu Daphne erzählt hatte. Sie wusste, dass es noch eine Apollon-Sage gab, in der er auch der Wassernymphe Kastalia so sehr zugesetzt hatte, dass sie sich lieber in die Kastalia-Quelle verwandelte, als sich dem Gott der Muse hinzugeben.
Karen ging ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn mit dem kalten Wasser auf und wusch sich minutenlang den Staub und den Schweiß vom Gesicht, ehe sie wieder ruhig durchatmen konnte.
Das Kastalia-Wasser schien wirklich einen magischen Zauber auszuüben, denn wie waren sonst ihre plötzlichen Gefühle für Nikos zu verstehen?
Karen zitterte immer noch die Hand, mit der sie ihm das heilige Wasser gereicht hatte.
Seine Berührungen …
Nirgendwo anders, außer vielleicht noch auf der Akropolis in Athen, hatte sie sich Nikos so nahe und gleichzeitig innerlich so zerrüttet und verletzt gefühlt wie dort. So etwas hatte sie bisher nur mit Michael erlebt. Es verwirrte sie und brachte sie auf Gedanken, die sie lieber nicht zu Ende denken wollte.
Als sich eine ansteigende Melodie von ihrem Handy meldete, schreckte sie zusammen. Eilig trocknete sie sich das Gesicht ab und griff dann nach dem Telefon. Auf dem Display erschien ein Name, der Nikos sofort vergessen ließ.
»Michael! Endlich rufst du zurück. Wie geht es dir, Darling?«
»Hi, das wollte ich dich auch gerade fragen. Bist du gut in Delphi angekommen?«
Karen war überrascht über seine raue Stimme, aber vielleicht war er nur erkältet.
»Das weißt du doch. Das hatte ich dir doch in meiner E-Mail geschrieben. Oder hast du sie noch nicht gelesen?«
»Nein, tut mir leid, dazu bin ich noch nicht gekommen. Gefällt es dir in Delphi?«
Karen setzte sich auf das alte Polstersofa. Sie würde die Heizung noch etwas aufdrehen müssen, denn ihr lief vor Kälte eine Gänsehaut über die Arme. Oder lag es an Michaels tiefer Stimme? »Ja, aber ich wünschte, du wärst hier. Dann wäre Delphi noch viel schöner.«
Für Mansfield war dieser Satz Balsam und Schmerz zugleich. Er lag im Krankenhaus, und trotz der Medikamente dröhnte sein Kopf wie die Niagarafälle. Neben ihm standen Alicia und Tom, die auf Karens Wutanfall warteten, doch anscheinend kamen sie bei diesem Telefonanruf noch mal glimpflich davon. Tom kramte gerade in seiner Jackentasche, als seine Finger auf zusammengefaltetes Papier trafen. Siedend heiß fiel ihm ein, dass er Michael Karens E-Mail ausgedruckt, aber noch nicht gezeigt hatte, zog sie heraus und hielt sie ihm hin, aber er winkte nur ab. »Ich muss jetzt Schluss machen, Darling. Tom kommt gerade zur Tür herein und will etwas von mir. Vielleicht rufe ich dich später noch mal an. Bye, Darling. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.«
Karen starrte einen Moment gedankenverloren auf das kleine silberne Handy, doch dann wischte sie alle dunklen Bedenken beiseite und ging in die Küche, um sich ihr Abendessen zu machen.
46
Sie schaute im Kühlschrank nach, ob sie aus dem Gemüse und den vorhandenen Konserven im Regal daneben ein leckeres Abendbrot zaubern konnte, doch das schien nicht machbar. Nicht, weil sie nicht genug eingekauft hatte, sondern weil sie mit ihren Gedanken bei Michael war, über seine unnatürlich raue Stimme und den kurzen Anruf nachdachte. Wie gern hätte sie länger mit ihm telefoniert, aber er schien noch immer keine Zeit zu haben, und damit musste sie sich abfinden.
Sie überlegte gerade, ob sie zwei Fleischspieße braten oder sich lieber einen Salat machen sollte, als noch mal die Melodie ihres Handys ertönte. Diesmal war es Julius.
»Hallo, Julius. Na, willst du wissen, ob ich mit den Recherchen für dein Buch gut vorankomme?«
»Das auch, meine Liebe, das auch. Aber zuerst will ich wissen, wie es dir geht. Ist bei dir alles in Ordnung? Ich hörte in den Nachrichten von dem schweren Erdbeben und den vielen Toten in Athen und habe mir Sorgen gemacht. Aber bei dir in Delphi ist alles
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