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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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heraus erblickt haben, denn er deutete plötzlich auf den Jungen, und gleich darauf setzten ihm zwei oder drei andere wie eine Meute Hunde einem Hasen nach. Als der Junge verzweifelt versuchte, über die Hofmauer zu klettern – sie war einfach zu hoch für ihn –, wurde er von den Umhängen eingeholt und wieder zurückgebracht. Der dritte Umhang holte bereits zum erneuten Schlag mit der Axt aus, als er plötzlich seine Meinung zu ändern schien und auf das brennende Seitengebäude zeigte. Die beiden anderen, die sich den Jungen geschnappt hatten, hoben ihn wie Eltern, die mit ihrem Kind einen Einkaufsbummel auf dem Markt machen, an den Armen hoch und warfen ihn dann durch das Fenster in die Flammen. Ich hörte noch einen schwachen, kläglichen Schrei.
    Daraufhin blickten sich sämtliche roten Umhänge noch einmal nach allen Seiten genau um, um sich zu vergewissern, daß ihnen nichts entgangen war, und traten schließlich in einer Reihe an. Der dritte rote Umhang schritt die Kolonne ab und zählte durch, um sicherzustellen, daß niemand fehlte. Plötzlich blieb er stehen und nahm einem der Männer ein Huhn ab, daß dieser hinter seinem Schild zu verbergen versuchte. Er schlug dem Übeltäter mit der flachen Schwertklinge auf den Hinterkopf und warf das Huhn ins Feuer. Dann marschierte die Kolonne, begleitet von der Flötenmusik dreier Jungen, die an der Seite des Zugs entlanggingen, in äußerst schnellem Schritttempo davon. Das Lied, das sie spielten, werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen; hin und wieder, wenn ich gerade an nichts Bestimmtes denke, ertappe ich mich sogar dabei, wie ich die Melodie vor mich hin pfeife.
    Kallikrates und ich beobachteten die Kolonne, bis sie hinter der nächsten Hügelkuppe verschwunden war, und kletterten dann so schnell den Berghang hinab, wie wir nur konnten. Aber wir mußten einen großen Umweg machen, da der über dem Gehöft liegende Abhang, von dem aus wir die Vorgänge verfolgt hatten, eher einer steilen Felswand als einem flachen Berghang glich, und als wir schließlich auf dem Hof ankamen, war das Reetdach des Seitengebäudes schon fast völlig abgebrannt und nichts mehr übrig als die bloßen Dachsparren, die wie die kahlen Äste einer Eiche im Winter in die Luft ragten.
    Kallikrates wickelte sich zum Schutz vor dem Rauch den Umhang ums Gesicht und betrat dann das Gebäude; ich versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Kurz darauf kam er furchtbar hustend wieder herausgerannt, und einen Moment später ertönte ein gewaltiges Krachen, als die ersten Gebäudeteile einstürzten. Mein Vetter schüttelte den Kopf, um mir anzudeuten, daß er sowieso nichts mehr hätte tun können.
    Auf der Rückseite des Gebäudes, beim Kuhstall, fanden wir den Bauern Thrasydemos, der versucht hatte, sich mit einem Rebmesser zu verteidigen. In seiner Brust klafften vier tiefe Wunden, und er war ganz eindeutig tot. Von seiner Frau und den restlichen Kindern, die sich eigentlich zur Zeit des Überfalls im Haus aufgehalten haben mußten, entdeckten wir keinerlei Spuren. Vielleicht waren sie gerade nicht auf dem Hof gewesen, aber das wollten wir beide irgendwie nicht glauben. Als ich die Leiche des Bauern betrachtete, sah ich etwas unter einem kleinen Feigenbaum glitzern und machte mich sofort daran, die Sache genauer zu untersuchen. Es handelte sich um einen kleinen Krug voller Silbermünzen, den jemand zerbrochen hatte. Ich wunderte mich, warum die Spartaner das Geld nicht mitgenommen hatten, aber dann fiel mir ein, daß sie als Zahlungsmittel keine Silbermünzen, sondern wie Bratspieße geformte Eisenbarren benutzen, so daß sie mit dem Silber natürlich gar nichts hätten anfangen können. Wahrscheinlich hatte einer der Spartaner den Krug gefunden und war vom Hauptmann gezwungen worden, ihn wegzuwerfen, wie es schon zuvor mit dem Huhn geschehen war. Obendrein sind die Spartaner äußerst ehrenwerte Menschen und halten nicht viel von Plünderungen.
    »Also komm, hier können wir sowieso nichts mehr tun«, sagte Kallikrates. »Wie sollten lieber ins Dorf zurückgehen und uns darum kümmern, daß die Bewohner wissen, was hier los ist.«
    Ich war heilfroh, von diesem Ort zu verschwinden, und wir machten uns hurtig davon. Natürlich konnten wir nicht über die Straße zurückgehen, weil das in einem Fiasko geendet hätte, und deshalb schlugen wir uns direkt unterhalb der Hügelkette durch, wo wir zwar selbst sehen, aber – mit etwas Glück – nicht gesehen werden konnten. Nach etwa einer halben Stunde

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