Der Ziegenchor
kamen wir über die Bergspitze und folgten dem schmalen Ziegenpfad, den Kallikrates von früher her kannte und der uns nach seiner Schätzung ein paar hundert Meter vom Dorf entfernt an den Fuß des Kithairon führen würde. Auf diese Weise hätten wir die Spartaner bequem überholen und noch rechtzeitig im Dorf ankommen müssen, um Alarm schlagen zu können, falls das nicht bereits geschehen war. Auf unserer Wanderung sahen wir unter uns aus einer geschützten engen Talmulde eine weitere Rauchsäule aufsteigen, doch diesmal versuchten wir erst gar nicht, uns einzumischen.
»Kallikrates, machen die Spartaner eigentlich immer solche Sachen?« fragte ich meinen Vetter. »Bisher habe ich noch nie etwas davon gehört.«
»Das machen die erst seit etwa einem Jahr so, und zwar genau seit dem Zeitpunkt, als wir damals nach der Invasion in Messenien damit angefangen haben.«
Ich war entsetzt. »Du meinst, wir haben damit angefangen? Dann sind wir im Unrecht.«
»Wie meinst du das: im Unrecht?« fragte mein Vetter zurück. »Wir sind im Krieg, da passiert so etwas nun einmal. Allerdings auch nur, wenn die Leute so dumm sind, sich beim Anrücken des Feindes nicht zu verkriechen.«
Ich konnte gar nicht glauben, was ich da hörte. »Willst du etwa damit sagen, daß die Leute auf dem Hof an ihrem Tod selbst schuld sind?« fragte ich.
Kallikrates blieb stehen und blickte mich an. »Kapierst du eigentlich überhaupt nichts? Niemand ist schuld, aber so ist nun mal der Lauf der Welt. Warum muß eigentlich an allem andauernd irgend jemand schuld haben?«
Eigentlich hätte ich ihm gern widersprochen, aber auf einmal fiel mir keine Antwort mehr ein – für einen Athener ein höchst ungewöhnlicher Zustand, unter welchen Umständen auch immer. Kallikrates ging jetzt immer schneller, und er hatte sehr viel längere Beine als ich.
Unser Marsch schien einfach nicht enden zu wollen. Je näher wir dem Dorf kamen, desto größer wurde meine Angst. Ich machte mich selbst verrückt, indem ich ununterbrochen Ausschau nach weiteren Rauchsäulen am Horizont hielt, aber wir entdeckten beide nichts. Kallikrates’ Stimmung schien sich sogar zusehends zu verbessern, da er hoffte, den Spartanern zuvorkommen zu können.
»Ich vermute, daß wir eben nur einen Stoßtrupp gesehen haben«, sagte er. »Wenn es die Spartaner mit dem ganzen Dorf aufnehmen wollen, werden sie ihre Truppen zusammenziehen und den Ort einkreisen. Schließlich wollen die sich das Leben nicht unbedingt schwerer machen als nötig. Ich nehme an, die haben den ganzen Kram genauso satt wie wir und wollen bestimmt nicht ihr Leben aufs Spiel setzen, indem sie ohne ausreichende Truppenstärke eine bewohnte Ortschaft einzunehmen versuchen. Die sind doch einzig und allein daran interessiert, so viel Schaden an Ernte und Viehbestand anzurichten, wie sie nur können, und deshalb werden sie den Einwohnern der größeren Orte auch jede Menge Zeit zur Flucht zugestehen.«
»Danach hat es vorhin aber nicht ausgesehen«, widersprach ich ihm, allerdings eher aus grundsätzlicher Streitlust als aus irgendeinem anderen Grund. Ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts mehr, als das Dorf von den Spartanern unberührt vorzufinden; selbst die Aussicht, Kallikrates in einem Streitgespräch zu bezwingen (was mir nie gelungen ist), war zu diesem Zeitpunkt nicht besonders verlockend.
Wir gelangten jetzt zwischen Weingärten und Olivenhainen hindurch auf sehr viel ebeneren Boden und entdeckten keinerlei Anzeichen dafür, daß die Spartaner vor uns hier entlanggekommen waren. Kallikrates erzählte mir, er habe während seiner Militärzeit ungefähr dasselbe gemacht, allerdings sei der Dienst nach einer Weile gehörig langweilig geworden, und niemand habe auch nur die geringste Spur von Begeisterung für diese Arbeit gezeigt oder gar nach Mitteln und Wegen gesucht, die anstehenden Aufgaben besser oder schneller zu erledigen. Ich fragte ihn lieber erst gar nicht danach, ob er selbst auch Bauern umgebracht hatte – das wollte ich wirklich nicht wissen.
Kallikrates verfügte von Natur aus über einen hervorragenden Orientierungssinn, und so erreichten wir fast genau die von ihm vorhergesagte Stelle, nämlich den Kamm der Hügelkette über dem Dorf. Wir sahen nach unten und erblickten zu unsrer grenzenlosen Freude einen Zug, der sich aus Maultieren, Ochsenkarren und Menschen mit Bündeln auf den Schultern zusammensetzte, die das Dorf so schnell wie möglich verließen. Die Spartaner waren also noch
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